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der Schriftsteller und Übersetzer Georges Arthur Goldschmidt, 92, aufgenommen 2007 auf dem Blauen Sofa auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse.

© picture alliance / Arno Burgi/dpa

"Vom Nachexil" von Georges-Arthur Goldschmidt: Leben im Vorher und Nachher

„Das Schreiben eines Exilierten hängt an einem bloßen Faden, wie das Schreiben Kafkas“: Georges-Arthur Goldschmidts Buch „Vom Nachexil“.

„Derjenige, um den es hier geht, Georges-Arthur Goldschmidt (geboren als Jürgen-Arthur Goldschmidt), ist Sohn einer der ältesten, jüdischen, dann zum Protestantismus übergegangenen Familien Hamburgs. Deutscher ging es kaum. Bis zum Intimsten des Wesens mit der Deutschheit verbunden, lebte die Familie wie im deutschen Bilderbuch, sozusagen mit Ludwig Richter, Hans Thoma oder den Brüdern Grimm zusammen.“

Den Nazis ist das nicht deutsch genug, sie erkennen der Familie Goldschmidt zuerst das Deutschsein, dann die Menschenwürde ab. Auch in Reinbek, wo Jürgen-Arthur als Sohn des angesehenen Oberlandesgerichtsrats Arthur Goldschmidt in den 1930er Jahren aufwächst, ändert sich Schlag auf Schlag alles: „Das Heimatdorf unterwarf sich aber unterdessen vollends mit Begeisterung der Herrschaft kakibraun uniformierter Vollidioten.“

1938 wird Goldschmidt vor den Nazis erst in Italien, dann in Frankreich in Sicherheit gebracht

Der kleine Jürgen-Arthur wird aus dem Kindergottesdienst ausgeschlossen; er wird zum „anderen“ gemacht, entfernt aus der so genannten Volksgemeinschaft – „geburtsschuldig“ lautet das traurige Wort, das Goldschmidt später dafür findet.

Am 18. Mai 1938 schicken die Eltern den damals Zehnjährigen zusammen mit seinem älteren Bruder zunächst nach Italien, dann fliehen die beiden Minderjährigen nach Frankreich – was für den Jüngeren unbegreiflich und lebensrettend ist. Dort, verborgen in einem katholischen Internat in den Savoyen und versteckt von Bauern, übersteht er Krieg und Verfolgung.

Georges-Arthur Goldschmidts ganzes Werk kreist um dieses Datum, um den Verlust der kindlichen Unschuld, um die Vertreibung.

Immer wieder hat er von diesem erzwungenen Abschied erzählt, von der Scham des Fremdseins, der Pein der Demütigungen in der christlichen Anstalt, von der Angst und den Jahren der Schwebe zwischen Heimweh und Ankunft im Neuen – und von der Sprache und Literatur, die ihn aufgenommen haben.

Nun legt er noch einmal in seiner alle Zwiespälte und Verstörungen offenlegenden Sprache Zeugnis ab vom Dasein im Exil. Denn das Exil, stellt er fest, ist kein Durchgangsstadium.

Es bleibt mit einem ein Leben lang, teilt es „in zwei von nun an unvereinbare Hälften: das Vorher und das Nachher; eine sehr banale Feststellung, kann man erwidern, die aber das Wesen des Exilierten als Doppelboden fundiert, untergräbt und zugleich aufspaltet“.

Goldschmidt exiliert auch in die französische Sprache

„Vom Nachexil“ (Wallstein, Göttingen 2020.88 Seiten, 18 €.) heißt dieses schmale, Essay und Erzählung verbindende Buch, das wie ein Konzentrat wirkt. Ein „er“, ein „ich“, ein „man“ wechseln sich darin im Sprechen ab. Es ist, als ob hier verschiedene Zeiten und Bewusstseinszustände, verschiedene Wesen sich miteinander ins Benehmen setzen müssten, als würde das Fremdsein und das immer wieder Sichvergewissernmüssen markiert durch die unterschiedlichen Perspektiven.

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Das Exil spaltet nicht nur in ein Vorher und Nachher, es zerstört auch die Einheit des Ichs.

„So ist der Exilierte, sobald er schreibt, zur Uneigentlichkeit verdammt; was er auch erzählt, im Grunde ist alles exiliert, alles vom Aufgebenmüssen bedroht. Das Schreiben eines Exilierten hängt an einem bloßen Faden, umso mehr, als es einen jeden betrifft, wie das Schreiben Kafkas“.

Der Junge exiliert auch in die französische Sprache. Sie ist ihm neue Heimat, die Muttersprache hingegen wird zu etwas Geheimem, etwas, das man nicht mehr mit sich führen darf und das doch stets mitschwingt.

Der Umgang mit den zwei Sprachen entwickelt sich für Goldschmidt zur Lebensaufgabe: als Gymnasiallehrer, Übersetzer, Schriftsteller.

Dieses Buch ist von einer immensen Eindringlichkeit

Das Französische erscheint ihm als „eine orangene, ins warm-rötliche verlaufende, ein wenig melancholisch nach Westen gerichtete Nachmittagssprache in von fernen Hügeln umrandeter Landschaft“.

Deutsch hingegen sei eine „Morgensprache, eine blau-grüne, nach Osten gerichtete Frühaufsteher- oder Wanderersprache, deren Wunderbarkeit aber immer auch ihre Einfachheit gewesen ist, eine Gartensprache sozusagen, an der man aber mit der begeisterten Teilnahme eines ganzen Volkes die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte begangen hat, eine Sprache, die willentlich verschandelt und mißbraucht wurde wie vielleicht keine andere sonst“.

Georges-Arthur Goldschmidt bringt das Schönste dieser Sprache in seinem Erzählen zum Klingen. Er besingt das Französische: Es hat ihn gerettet. Goldschmidt ist inzwischen 92 Jahre alt. Er ist einer der Letzten, die von ihren Erfahrungen im Exil erzählen können. So ist, was in seinem Buch über das Wesen des Exils steht und über die Juden als Exilierte an sich, von seinem Leben verbürgt – und von einer immensen Eindringlichkeit.

Er gibt uns eine Warnung mit auf den Weg, die kaum drastischer sein könnte – und die man sich angesichts von Aufmärschen neofaschistischer Idioten und ekelhaften Reden einschlägiger AfD-Politiker und sonstiger Demagogen zu Herzen nehmen muss: „Wie man sieht, haben die Nazis Nachfolger, und das Publikum soll sich beruhigen; nach siebzig Jahren Nachlässigkeit werden die Scheiterhaufen wieder lichterloh flammen, wie damals zu den frohen Zeiten der Pogrome, die doch das Wesen Europas ausmachen. Seid ruhig Leute, das kommt alles bald wieder, wie ihr es haben wollt.“

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