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Kultur: Vom Umtausch ausgeschlossen

Materielle Geschenke kann man schön ein- und auspacken. Manche erlebt man eher. Und kann sie dann beschreiben. Fünf Beispiele.

AUGENBLICK

Marina Abramovic in der

Doku „The Artist is Present“

Sie sitzt auf einem Stuhl und schaut dir in die Augen. Frontal, unverwandt, ohne eine Miene zu verziehen. Sie sagt nichts, zuckt nicht nervös mit den Wimpern, wendet sich nicht ab, steht nicht auf. Sie schaut dich nur unentwegt an. Auge um Auge, Blick um Blick. Bis ihr Gegenüber den Platz frei gibt für den Nächsten und weitergeht, zurück ins eigene Leben. Die Aktion von Marina Abramovic ist schon zwei Jahre alt. Aber was die Performerin im New Yorker MoMA unter dem Titel „The Artist is Present“ veranstaltete – drei Monate lang saß sie sieben Stunden am Tag im Museum und schaute –, konnte man erst dieses Jahr in einem Dokumentarfilm aus anderswo in Augenschein nehmen. Auf der Berlinale, dann im Kino, für alle, die nicht dabei sein konnten.

Keine Ahnung, wie sie die Kamera platziert haben, ohne zu stören: Auch der Kinozuschauer konnte den Eindruck gewinnen, Abramovic schaut ihn direkt an, nur ihn. Manch einer, der vor ihr saß, war tief bewegt, einige weinten, andere zitterten, rutschten nervös auf ihrem Stuhl herum oder fingen an, Faxen zu machen. So wird man nicht oft angeschaut. Aber so geht es einem, wenn man große Kunst erlebt, ein Gemälde, ein Filmbild, eine Musik, einen Bühnenabend, einen Satz in einem Roman oder einem Gedicht: dass man sich erkannt fühlt (oder ertappt). Da ist eine, die dir auf den Grund der Seele blickt und die zurückschaut. Die Aufmerksamkeit schenkt, alle Aufmerksamkeit der Welt. Wer die Künstlerin in Matthew Akers HBO-Dokumentation „Marina Abramovic – The Artist is present“ erlebt, bekommt jedenfalls eine Ahnung davon, warum wir Literatur, Kunst, Musik und all das brauchen wie die Luft zum Atmen. Weil wir Wesen sind, die verstanden werden wollen. Christiane Peitz

AUF DER HOLZTERRASSE

Erinnerung an einen Wettbewerb

um den klaren Moment

Einmal am Tag ging man zum Report. Man saß einem Mann in orangefarbener Robe gegenüber und sollte von den Ereignissen des Tages berichten. Wenn man nichts zu berichten hatte, sah der Mann einen freundlich an.

„Wie viele Stunden?“, fragte er dann.

„Sieben.“

„Gut. Morgen sitzt du acht.“

Man verbeugte sich und verließ das Zimmer. Draußen war es schwül, draußen, auf der überdachten Terrasse mit den zwei Bänken, warteten schon die nächsten. „Die letzten drei Tage schläft man kaum noch“, sagte einer mit dunklen Locken, der so tat, als wisse er Bescheid. „Du erlebst einen klaren Moment. Deshalb der Hokuspokus.“ Es klang wie ein Wettbewerb. Wer am längsten durchhält, gewinnt. Im Morgengrauen lag ein Geruch nach Curry und scharf angebratenem Gemüse in der Luft. Ein Hund mit einer hässlichen offenen Stelle im Nacken streunte abends zwischen den Hütten. Einmal verließ eine junge Amerikanerin das Gelände, um von der Telefonzelle gegenüber mit ihrer Schwester in Nevada zu telefonieren. „Kaputt“, sagte sie verdutzt, als sie zurückkam.

An dem Tag, als ich dem Mann in der Robe sagen wollte, dass ich gehen würde, saß eine Frau auf der Bank vor seinem Zimmer. Sie trug Flip-Flops wie alle und blickte auf den Boden.

„Hey, Tage nicht gesehen“, rief eine vorbeikommende Frau mit raspelkurzem Haar, die schon seit Jahren dort lebte.

Die Frau auf der Terrasse hob den Kopf.

„Oh“, machte die andere überrascht, als sie ihren Blick sah. „Das wirst du nie vergessen. Nie in deinem Leben“, sagte sie und ging weiter.

Ich fragte mich, ob die Frau auf der Bank den einen klaren Moment erlebt hatte, von dem hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Ob sie ihr Leben gesehen hatte. Ich wartete, dass sie den Kopf hob und nun auch mich ansah. Aber sie tat es nicht. Sie schaute nur auf ihre gutgelaunt wippenden Füße, und als der Assistent die Tür öffnete, huschte sie ins Innere. Kurz danach hörte ich sie lachen. Daran erinnere ich mich: ihre lila Flip-Flops auf den Bohlen der Holzterrasse, während sie und der Mann in der Robe sich über das, was sie erlebt haben musste, köstlich amüsieren. Andreas Schäfer

KREIDEZEIT

Tacita Deans afghanische Berge

auf der Documenta

Das Zarte ist das Erhabene. Das Vergängliche ist das, was bleibt. Auf riesigen Schiefertafeln – elf Meter lang – hat Tacita Dean mit Kreide immense Berglandschaften gezeichnet. Schneegipfel, Höhenzüge, Schluchten, die Seele will sich aufschwingen bei ihrem Anblick, hineinstürzen. Eine solche Ruhe strahlen die Felsen aus. Das Erhabene ist der Abgrund.

Immer nur eine kleine Gruppe von Betrachtern wurde in diesen Raum der Documenta 13 eingelassen; die Schieferzeichnungen vertragen keine Feuchtigkeit, wären im Handumdrehen zu verwischen, empfindsame, fragile Monumente. „Fatigues“ nennt die in Canterbury geborene Künstlerin ihre Tafeln, und wie ihre mittelalterlichen Vorgänger erzählen auch ihre Tales von Krieg und Frieden, Sehnsucht und Liebe, Ewigem und Vergänglichem. Denn da thronen die Berge Afghanistans, einst Traumland der Hippies, heute Rückzugsgebiet von Terroristen, Drogenhändlern, Kampfplatz der ISAF, Herrschaftsbereich von Stammesfürsten. „Fatigues“ steht für Uniformen, aber auch Ermüdung. Damit ist alles gesagt, nicht nur für Afghanistan.

Ursprünglich wollte Tacita Dean einen Film über Kabul drehen, doch das Material wurde zerstört, und sie war zur Reise in die Kreidezeit gezwungen. Ein großes Glück (selbst wenn die Geschichte mit dem Film erfunden ist)! Es ist mein Kunstwerk des Jahres. Wie schwer fiel es, dem Panorama den Rücken zu kehren und sich wieder in den Informationsfluss der documenta einzuspeisen, an jenem heißen Sommertag in Kassel. Die „Fatigues“ leben, jenseits der breaking news, der Kriegsberichte und Politikervisiten. Sie atmen Kälte und Gefahr, aber auch elementare Stille, die Einsamkeit der Götter, wohltuende Frische. Das müssen die Berge sein, die zum Propheten kommen, am Ende aller Kriege und Zeiten. Wer sie einmal überflogen hat, auf dem Weg von Neu Delhi nach Kabul, der hat gesehen: Hier geht ein Riss durch die Welt, so tief wie der Himmel. Rüdiger Schaper



AUS DEM GRABEN

Ein Weltaufgangsstück

am Ende eines langen Jahres

Die zwei Wochen sind für dich, nichts stört! Dort vorn ist das Meer, die Januarsonne wärmt. Besser kannst du es nicht haben. Arbeite! – So sprach die Legislative zur Exekutive.

Die beiden kommen gewöhnlich gut miteinander aus. Es ist eine reine Vernunftbeziehung. Das Erst-Ich weiß, was das Zweit-Ich zu tun hat. Du hast keinen Tag zu verschenken!, sagte es noch. Völlig richtig. Es war eine große Arbeit, und der Abgabetermin lag plötzlich schon in diesem Jahr. Aber das Nicht-beginnenKönnen begann sofort.

Gut, sprach also das Macher-Ich zum Zweifler-Ich, dann fängst du eben mit den Korrekturen an! Es gibt nichts Riskanteres als einen Kritiker, der aus einem verhinderten Autor geboren wird. Alles, was er sichtete, fiel unter dieselbe Rubrik: Müll! Und das Schlimmste war: Er hatte recht.

Ein Autor ist jemand, der sich selbst beschenkt, im besten Falle. Fängt er nicht deshalb überhaupt an zu arbeiten? Weil plötzlich ein Gedanke auf dem Papier stehen kann, den er eben noch gar nicht hatte? Jemand arbeitet mit, wenn er arbeitet. So ist das. Jetzt war das anders. Ein Autor ist auch jemand, der sich mehr nehmen kann, als er hat.

Das Manuskript schrumpfte, der Termin rückte näher, die südliche Sonne schien weiter, die Finsternis wuchs. Und sie bekam Wände, die Wände rückten näher. Endlich umschlossen sie den Autor ganz. Das heißt: sehen, ohne wirklich zu sehen. Hören, ohne wirklich zu hören. Leben, ohne noch zu leben. Und nun zum Geschenk.

Kein größeres ist denkbar, als wenn diese Wände wieder aufgehen. Wie das klingt? Vielleicht gibt es kein wunderbareres Weltaufgangsstück als das „Rheingold". Wer es hört, hört es aus dem Graben heraufdringen, das war immer so. Doch im November war es einen Abend lang anders. Bei Marek Janowski in der Philharmonie kam nichts aus dem Verborgenen, der Mechanismus lag offen. Und der erste Ton, der Weltanfangston, aus dem alles wird, erklang direkt vor mir. Ich saß genau vor den acht Kontrabässen. Nur die eine Note der Urtiefe, dieses Kontra-Es, eine gefühlte Ewigkeit lang, direkt vor mir. Dann treten die zwei anderen hinzu, einhundertsechsunddreißig Takte lang. Was für ein Anfang, was für ein Es-Dur! Kerstin Decker

ORIGINALVERSION

Eine Kurzreise mit einem Zettel

voller Zeichen in der Hand

Sechs Tage bin ich in der fernöstlichen Stadt unterwegs und finde mich in dieser sorgfältig untertitelten Welt gut zurecht. Am siebenten Tag will ich ganz in die Sprach- und Schriftfremde hinaus und ein Paar besuchen, das mich zum Tee in seinen in der Nähe gelegenen Heimatort eingeladen hat. Die Adresse haben mir die beiden auf einen Zettel geschrieben. Ich soll, sagten sie, einfach den Pendlerzug nehmen und am Zielort dem Taxifahrer den Zettel zeigen.

Auf dem Zettel stehen Zeichen. Ich verstehe sie nicht. Der Fahrplan, den eine Frau mir am Schalter aushändigt, besteht aus Zahlen und Zeichen. Eines der Zeichen, das einem der Zeichen auf meinem Zettel ähnelt, markiert sie mit einem Kreis. Ich kaufe eine Fahrkarte, besteige einen Zug. Ich zähle die Haltepunkte und vergleiche sie mit den Zeichen über den Zahlen auf meinem Fahrplan. Der Schaffner, dem ich unterwegs das Ticket hinhalte, hat keine Einwände.

Am Zielort – unscheinbares Bahnhofsgebäude, Menschengewühl, zahllose Häuserblocks voller Zeichen – hält kein Taxi. In einem Laden zeige ich meinen Zettel vor, man deutet auf Bushaltestellen und notiert mir Zahlen. Im Nachmittagsstau steige ich in einen Bus ein, und ein junger Mann gibt mir ein Zeichen, wann ich aussteigen muss. Immer weist der Zettel mir den Weg. Meine Gastgeber freuen sich, dass ich ihr Haus so leicht gefunden habe. Der Tee ist köstlich.

Zurück zum Bahnhof – es ist dunkel geworden – soll ich irgendeinen der Busse auf der anderen Straßenseite nehmen, sagten meine Gastgeber. Einen Zettel habe ich nicht mehr dabei, wozu auch, zurück findet man doch immer von selbst. Nur rast jetzt der Bus an den Häuserblocks vorüber, und als ich „station?“ zum Fahrer sage und in den schütter besetzten Wagen hinein, blicke ich in undurchdringliche Gesichter. Hinter der Scheibe leere Bürgersteige, zahllose beleuchtete Zeichen, aber nirgends der Bahnhof, von dem aus es in die Großstadt zurückgeht, Zubringerwelt in meinen fernen Kontinent. So also fühlt es sich an, wenn man vollends verloren ist.

Auf gut Glück steige ich aus. Kaum habe ich, tatsächlich, den Bahnhof entdeckt, steht ein Fremder neben mir. Ist er mit mir ausgestiegen, und warum bloß hält er mir sein Handy ans Ohr? „Are you in trouble?“, sagt eine freundliche Stimme. Jan Schulz-Ojala

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