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Kultur: Von Engeln und anderem Geflügel

Ob Küche oder Kapitol: Seit es ums Leben geht oder nur um die Leber, spielt die gute Gans eine Hauptrolle im Festtagstheater. Da lachen dann die Hühner und lächeln die Tauben. Ein vorweihnachtlicher Streifzug durch die Kulturgeschichte des Federviehs

Die Geschichte beginnt mit einem Engel. Er fliegt in das Haus einer Jungfrau und verheißt der Verwunderten, dass sie bald schwanger werde. Auch neun Monate später sind es die geflügelten Boten, himmlische Heerscharen, die mit ihren geflügelten Worten („Fürchtet euch nicht...“) den Hirten auf dem Feld die Ankunft des göttlichen Kindes verkünden.

Engel, wenn sie nicht gerade Flammenschwerter tragen, spielen gemeinhin Harfe oder blasen die himmlischen Posaunen; dazu leuchtet überm Stall von Bethlehem der berühmte Stern, und schon frühe Krippendarstellungen zeigen, dass nicht erst die goldenen Drei Könige ihre Gaben brachten, sondern die Hirten gleich Brot und Käse für das bedürftige Elternpaar. So sind alle Ingredienzen des Festes schon zur ersten Weihnacht vereint: Wunder und Glaube, Licht und Musik, das Schenken und das Essen.

Heute hängen die irdischen Höhen und Tiefen des Festes vor allem an letzteren Zutaten. In unseren kulinarischen Exkursen haben wir in den vergangenen Jahren von der Kulturgeschichte des Hummers und der Auster erzählt, haben die Süße der Musik und die Süße der Gebäcke und Desserts gerühmt („In Dolce jubilo“), haben, „Aldi Jahre wieder“, die Verführungen des Supermarktes gekostet. Da sind nun die gefiederten Lockungen überfällig.

Wir wissen nicht, wann der Herr seine Engel erschaffen hat. Das übrige Geflügel jedenfalls schuf er am fünften Tag, mitsamt den Fischen, unter denen es ja auch ein paar fliegende gibt. Der Mensch und das ungefiederte Vieh kamen erst am nächsten Tag zur Welt. So war für Füchse und Wölfe, für Katzen und Köche schon vorgesorgt. Und die traditionelle Weihnachtsküche, zumal die deutsche, kennt vor allem zwei Klassiker: den Karpfen und die Gans.

Beide sind ziemlich fett. Daher passen sie in eher kältere Länder, wo man das Schwere – sei es Pelz, Alkohol oder Kalorienbombe – lange für gesund und wärmend hielt. Im Übrigen kann man vom Karpfen, wenn er nicht zum Entschlammen und der Frische halber noch in der heimischen Badewanne schwimmt (heutzutage selten) oder aber durch postmortale Spannungen plötzlich überm Herd ausschlägt und, fliegender Fisch, gar aus dem offenen Kochtopf springt (kommt vor), wenn also das alles nicht passiert und die Erbtante an keiner Gräte erstickt, dann kann man vom Karpfen keine Weihnachtsgeschichte erwarten.

Mit der Gans ist das ganz anders. Denn Gänse sind schon mal mythische Tiere. Einst haben sie griechische Tempel bewacht und mit ihrem Geschnatter das römische Kapitol gerettet – vor den einfallenden Galliern, was ihnen deren Nachfahr, der Dichter Lafosse, damit vergalt, dass er das gerettete Kapitol zu einer Tragödie aus zweitausend Alexandrinern verarbeitete: ohne die Gänse eines einzigen Verses zu würdigen. Die Römer jedoch verehrten nicht nur die Klugheit des kapitolinischen Geflügels, sie fanden nach der Eroberung Galliens auch Geschmack an seinem schönen Fleisch. Nun ging es den Gänsen ans Leben. Und an die Leber.

Alexandre Dumas, der Autor der „Drei Musketiere“ und des „Graf von Monte Christo“, dem wir den Hinweis auf Monsieur Lafosse verdanken, er hat am Ende seines Lebens einen „Grand Dictionnaire de cuisine“ verfasst, der erst nach Dumas’ Tod 1873 erschien. In der ansonsten wunderbaren dreibändigen deutschen Ausgabe dieses „Großen Wörterbuchs der Kochkunst“, soeben im Mandelbaum Verlag, Wien (824 Seiten, 59,80€) vorgelegt, fehlt leider ein Detail: das Protestschreiben der Straßburger Gänse – gegen das Mästen ihrer kostbarsten Innerei. Allerdings erfahren wir auch im deutschen Dumas, dass das Gänseleben seit Julius Caesar und seinem Gallischen Krieg immer gefährlicher wurde. Das gilt bis heute, obwohl schon Julius Caesar Sacaliger, kein Krieger, ein italienischer Humanist und Naturforscher des Cinquecento, Anmut und Geist der Gänse rühmte: Unter Brückenbögen, gleich wie hoch, senken sie die Köpfe, im Gebirg’, wo auch Adler fliegen, nehmen die Geschwätzigen einen Stein in den Schnabel. Um sich und ihr Mitgeflügel nicht zu verraten.

Wer den Braten riecht

Nach Konrad Lorenz sind die Graugänse wohl die besseren Menschen; nach Tomi Ungerer, der nicht nur Zeichner und Geschichtenerzähler, sondern auch Farmer und Schlachter ist, sind Gänse die lustigsten, sozialsten, schlauesten Tiere von allen, denen wir an die Gurgel gehen. Dabei gilt die Gans (von wegen „dumme G...“) auch noch gebraten als soziales Wesen – weil sie ihrer Größe, Wertschätzung und auch des Preises wegen vor allem für Familien- und Freundesessen, also für gemeinsame Festtage taugt. Als Martins- oder Weihnachtsgans, und überhaupt.

Die Frage ist jetzt nicht mehr so sehr das Fett. Gänse, wie gesagt, gelten als schwer. Doch was heute irgendwie als Bauerngans, als Freilandfedervieh angeboten wird, ist nur umfänglicher, aber kaum noch viel fetter als Enten oder Poularden. Das Problem scheint eher: Die Gans ist als Königin des Geflügels vor allem ein Mythos. Denn sie erweist sich meist als weniger zart, weniger saftig und nicht so überwältigend aromatisch, wie wir sie vielleicht noch in Kindheitserinnerungen, aus Weihnachtsmärchen oder auch als Filmbild in Ingmar Bergmans wunderbarem Weihnachtsepos „Fanny und Alexander“ im Gedächtnis haben. Doch wird er im hungrigen Kreis aufgetragen, dieser mächtige, duftende Gänsebraten mit der Fülle aus Äpfeln, Leber, Maronen, Rosinen, dann wirkt er noch jedesmal verführerisch. Und die insgeheime Enttäuschung darf dann ein guter Rotwein betäuben.

Natürlich kann die Gans, soll sie mehr als den schieren Hunger stillen, nicht aus der Tiefkühltruhe kommen. Aber wenn Sie den Bauern (und womöglich die Gans) nicht selber kennen, sind Sie nie auf der sicheren Seite. Denn all die halbklaren lebensmittelrechtlichen Auszeichnungen, die jenseits der sogenannten „Intensivhaltung“ (vier Tiere pro Quadratmeter im Marterkäfig) ein extensiveres Gehege mit diffus deklariertem Mastfutter verheißen, sind keine Garantie. Für Gans und gar nichts. Nicht für die Lebensart des Tieres und schon gar nicht mehr für seinen Geschmack hinterher.

Keine grüne Reform hat bisher den Tierschutz über die Massenzüchtung siegen lassen – und wenn vom Verbraucherschutz getönt wird, dann ist allenfalls unschädliches, nicht aber wohlschmeckendes Fleisch gemeint. Bayerische, brandenburgische oder polnische Gänse schmecken nicht besser, als sie gelebt haben. Und wer sich wundert, warum in Deutschland oder selbst Italien das Geflügel oder auch Rind- und Kalbfleisch so wenig Aroma haben, dem kann – angesichts fehlender Weidewirtschaft – mit einem Blick in die halbdunklen, zum lebenslänglichen Gefängnis gewordenen Tierfabriken vielleicht ein Licht aufgehen. Nur bei den besten Charolais-Rindern oder dem Angus-Beef schmeckt auch die Würze von Gras und Weide durch.

Und Frankreich? Der gallische Hahn ist noch immer das einigende Symbol. Über die Frage, ob jeder Franzose wenigstens sonntags sein Huhn im Topf hat, sind Revolutionen und Revolutionstheorien ausgebrochen, und der Bürger ist ein König und also kein Revolutionär mehr, solange Huhn und Hahn ihm den Bauch runden und den Gaumen freuen. Dabei kommt das schmackhafteste, weltweit berühmteste Geflügel (sehen wir von der originalen Peking-Ente ab) aus der südostfranzösischen Region Bresse.

Hier sind wir auch am Ursprung der Zeitungsente. Als nämlich im 19. Jahrhundert die Nachfrage nach der canard de Bresse, nach Enten aus der Bresse, ins Fabelhafte stieg, folgte plötzlich eine ebendso fabelhafte Vermehrung des Angebots. Angesichts derart zweifelhafter Bresse-Enten kam es bald zum übertragenen Wortspiel canard de presse – und so wurde die Falschmeldung in der Zeitung zur: Presse-„Ente“.

Vom Paradies – nur ein großer Sprung

Heute dominieren den deutschen Importmarkt die meist aus anderen französischen Regionen stammenden, mit ihren Brüsten an jeder Fleischtheke gehandelten Barbarie-Enten. Und die Einfuhr der wohl besten, weil erwürgten (also nicht abgestochenen und ausgebluteten) Rouennaiser „Blutente“ ist in Deutschland aus tierschützerischen wie aus lebensmittelrechtlichen Gründen untersagt. Dagegen firmiert die Gegend Bresse bei uns in ausgewählten Läden vor allem mit dem schlichten: Huhn.

Doch das Poulet de Bresse, mit Mais und Milch gefüttert und auf Freiluftmist gewachsen, ist nicht irgendein Geflügel und mit deutschem Industrie-Huhn oder -Hähnchen kaum zu vergleichen. Angebraten und in Riesling oder mit Weinessig gegart, taugt es für jeden Festtag (siehe auch Wolfram Siebecks jüngste Sammlung „Alle meine Rezepte“ im Eurocultur Verlag, Pöcking). Wer da vorm Geflügeltresen der Berliner Galéries Lafayette etwa noch meint, dass auch die schönen korpulenten Hühner aus Frankreichs Landen uns lockten, der wird von der reizenden Metzgerin belehrt: „Das sind die BMWs und Mercedes. Auch ganz gut. Aber aus der Bresse kommt der Rolls Royce!“

Leider blieb der Rolls Royce, obwohl mit gut anderthalb Kilo im Idealgewicht und mit Bresse- Brief und metallischem Echtheitssiegel versehen, auf dem Teller selbst mit der tollen Siebecksauce eine Spur fad. Was daran liegen mag, dass die beiden ersten Qualitäten der nunmehr lizensierten Bresse-Hühner Frankreichs eigene Märkte und Küchen erst gar nicht verlassen. Eine andere, viel teurere Geflügeldelikatesse ist dagegen auch ein Exportschlager, und die Deutschen gehören zu den begierigsten Importeuren. Es geht wieder um die Gans – und ihre Leber.

Die Gänsestopfleber gehört, gut gekühlt, als Pastete aus dem Périgord oder dem Elsass rund um Straßburg mit ihrem Schmelz und dem Hauch von Wildgeschmack neben Hummern, Austern und Kaviar zu den unübertrefflichen Köstlichkeiten. Auch das hatten schon die frühen Gänseliebhaber entdeckt. So gilt der römische Konsul Metellus Scipio als Erfinder der Stopfgans und damit auch jener Masttour, bei der Gänsen die letzten zwei bis zweieinhalb Wochen ihres Lebens zur Vergrößerung der Fettleber über die allgemein übliche Getreidemast noch ein Brei aus Nudelteig, Milch, Öl und Schmalz eingetrichtert wird.

Das ist eine Art Zwangsernährung, die in Frankreich, Ungarn und seit einigen Jahren auch in Israel wegen der steigenden Nachfrage nach Gänsestopflebern quasi industriell betrieben wird. Allerdings, im lieblichen, südfranzösischen Périgord, wo die Landgüter mit bunten Tafeln werben, auf denen Bäuerinnen in alter Tracht ihre langhalsige Gans mit aufgesperrtem Schnabel zwischen den Beinen haben und sie mit kaffemühlenähnlichen Trichtern fröhlich nudeln, dort habe ich eine Züchterin im Radio erzählen hören, dass ihre frei laufenden, wohlgehegten Gänse ein schönes Leben hätten.

Deutschen Tierschützern ist die hierzulande verbotene Stopfmast ein Gräuel und Skandal. Die Bäuerin aus dem Périgord aber liebt ihre Tiere und sagt, wenn es eine unterträgliche Qual wäre, dann würden so kluge Wesen wie Gänse nicht auf Zuruf freiwillig zu ihr eilen, um gestopft zu werden. Mag sein. Wir sind jedenfalls auch gegen den Stierkampf und wissen doch, dass ein Kampfstier auf andalusischen Feldern bis auf seine letzte Stunde ein paradiesisches Dasein hat – verglichen mit den Millionen als nur angekettetes Lebendfleisch gehaltenen Massenzuchtrindern. Dies gilt wohl auch für die Stopfgans auf dem französischen Bauernhof, im Vergleich zu den Insassen unserer Batterien, die immer wieder als „Geflügel-KZs“ tituliert werden. Der Mensch ist pharisäerhaft. Und manchmal ein grausames Tier, das im Leben etwas Überfluss braucht und Genuss, weil es weiß, dass es sterben muss.

Ein wahrer Genuss, wenn wir denn nicht Engel sind und doch nach Geflügel streben, sind endlich Tauben. Leichter als ein Spatz in der Hand ist heute eine Taube im Handel zu finden. Auch da sind die französischen Wildtauben die besten, und schief gehen kann hier wenig. Sie sind aromatischer als Fasan (oder die geschmacksarme, zur Modezüchtung degenerierte Wachtel), ja, vorsichtig rosa gebraten erinnert ihr leichtes Wildarom an die gute Gans. Nur zarter, feiner, filigraner; eine Sonate, keine Symphonie, würde der Musiker sagen. Eine Taube allein aber macht noch kein Weihnachten, es braucht für jeden Mund und Magen schon ein eigenes Täubchen. Zum Friedensfest.

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