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Von-Kieseritzky-Roman "Da kann man nichts machen": Literatur: Die fantastischen Versager

Eine Buchkritik

Ein Toter im Orientexpress. Ein Pass, der die feudale Abstammung versichert. Ein geheimnisvolles Manuskript. Normalerweise müsste nun eine energische Miss Marple auftreten und die verschlungenen Fäden entwirren. Doch diesmal sitzt Miss Marple in Gestalt von Bea Viktoria, Jahrgang 1898 oder 1902, acht Mal verheiratet und zuletzt Gemahlin eines Corsettagen-Fabrikanten aus dem Kurland, auf einem Hochplateau im Schwarzwald und pflegt unter Anteilnahme ihres entfernten Neffen Randolf von K. und dem Einfluss großer Mengen Whiskys ihr krankes Bein. Nach Viks nicht ganz freiwilligem Ableben nimmt sich die stinkreiche Erbtante Milly Randolfs an und beauftragt ihn, einen Familienroman zu verfassen.

Alles scheint vernünftig geordnet, bis Landau auftaucht. Mit ihm kommt die "Logik des Zufalls" ins Spiel und treibt mit "unwiderstehlichem Charme" jenem "endgültigen und hoffnungslosen Finale" entgegen, das Randolf in eine wenig komfortable Zugtoilette befördert, wo ihn eben keine detektivische Miss Marple, sondern der Schaffner Jaroslav Vicovic aus Prag entdeckt und ihn um ein paar Habseligkeiten und ein paar Manuskripte erleichtert. Denn wie der Zufall es will, ist Vicovic nicht nur romantischer Barde der "Großen Lokomotive Buddicom", sondern auch ergebener Diener der Literatur und auf der Suche nach dem "perfekten, vollkommenen Buch", das nur mit der Formel "es war einmal" beginnen kann.

Ein Märchenerzähler erster Güte ist auch Ingomar von Kieseritzy, alias Randolf von K. Wie Zugschaffner Vicovic läuft er entgegen der Fahrtrichtung und setzt Geschichten frei, die manchmal bitterböse und manchmal nur skurill brillieren. Sie führen in die erinnerungslose, rudolf-ver-steinerte innere Emigration Freiburgs, wo das Kind Randolf der eurhythmischen Vergewaltigung durch blinde Treppenstürze und schüchterne Lieben zu entgehen sucht; in die Welten seines Vorfahrs Alexander, der einem bakteriellen Angriff aus der Konservendose zum Opfer fiel und, besonders lohnend, ins Paris des Fin de Siècle, wo Ahn Lionel eine verwirrende Kaffeehaus-Existenz lebte.

Doch weil Randolf keineswegs zu den "mittleren Begabungen" gehört, die Freund Willy beneidet, weil sie "den Fluß" hinkriegen, der über den ersten Satz hinauskommt, nimmt er seinen eigenen Rat Ernst und springt bei jeder Geschichte "in die Mitte" und erzählt sie zum Anfang hin. Reichlich konfus geht es deshalb zu in Randolfs Familienroman, die Figuren behaupten genealogische Folgerichtigkeit, doch nie weiß man genau, warum ihr Schicksal gerade in diese Sackgasse führt - und es sind immer Sackgassen! - und wann der Zufall sie aus dem Spiel wirft. Urkomisch und versetzt mit pikanten Ausdünstungen unterhält etwa die alte Dame Vic ihren Neffen mit abgründigen Krankheiten, Leichen in Kanonenöfen und eigenwilligen Romantheorien - doch wer Schuld hat am Ableben der Tante - die Ansicht von Reval bei Regen, die unbekömmliche Sakuska oder der "richtig gute Waldmüller", der Randolfs Finanzmisere beheben könnte - dieses Rätsel bleibt ungelüftet.

Weil sich mit dem Fortgang von Randolfs Recherchen die blutigen Familienintrigen immer mehr verwirren und jeder einmal aufgenommene Faden hilflos im Leeren hängen bleibt, versucht Randolf, die Geschichte vom Finale her zu erzählen und den Stoff vom Effekt her aufzurollen. Doch wo Kieseritzkys Helden auch hinfassen, sie sind und bleiben Versager: Randolf verliert Isabelle an einen Konkurrenten, beim Kampf mit dem Gänserich macht Vicovic eine höchst unrühmliche Figur; und selbst dort, wo sich die Helden zu absentieren trachten, endets im Desaster: Nikolaj, dem der ultimative Roman zu schreiben versagt bleibt, scheitert an den maroden Heizungsrohren: "Da kann man nichts machen!"

Was der Gänserich, Isabelle und Nikolaj in der Geschichte überhaupt zu suchen haben, ganz abgesehen von Bibiana oder Onkel Basorgia? Keine Ahnung! Für Kieseritzky gilt, was der übergescheite Anton über Tristram Shandy doziert: Dieses Buch nämlich sei "zusammengesetzt aus lauter Abschweifungen, aber systematisch." Und um die Phantasie, weiß das kluge Kind, muss man "sich fortimmer kümmern, weil sie sonst nur Abschweifungen erzeugt."

Fürwahr, es ist unmöglich, in Randolfs Aufzeichnungen eine Ordnung der Dinge zu erkennen oder sich einen "systematischen Überblick von Zeit und Raum" zu verschaffen. Das Phantastische folgt einer eigenen Ordnung, die ihre hintergründig-boshafte Logik - das jedenfalls ist die Erfahrung bei Lesungen des Autors - mehr dem Hörer als dem dem Leser offenbart. Kieseritzkys Stachel senkt sich auch in diesem Fall ins Fleisch, doch wirkt das Gift in kleiner Prosa schockartiger. In die zahlreichen Adern des Erzählleibes gepumpt, verliert sich seine Wirkung, der Leser wird gelähmt.

Natürlich wird auch noch derlei begutachtende Anstrengung vom Autor voraus eilend und ironisch vorweggenommen und Anton oder Tante Milly in den Mund gelegt. Für "die kleine narrative Welt hättest du dich nicht verstecken müssen", mahnt sie den Neffen und lobt seine "allusionsreichen Vexierspiele". Als "erfahrene Autorin, mein lieber Randolf" weiß sie auch den Publikumsgeschmack zu deuten: Lebenshilfe, Aufklärung, Vergnügen und Ablenkung. Da kann man nichts machen!

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