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Kultur: VOR - Babel & Co

Früher, als alles schlechter war, ging es manchen Künsten besser.Der Hausmusik zum Beispiel, die heute fast ganz vom Hochvergnügen - oder was heißt High Fidelity?

Früher, als alles schlechter war, ging es manchen Künsten besser.Der Hausmusik zum Beispiel, die heute fast ganz vom Hochvergnügen - oder was heißt High Fidelity? - niedergebrüllt ist.In den bürgerlichen Kreisen wurde Wert auf bürgerliche Kultur gelegt.Einer gewissen Kennerschaft beim Genießen entsprach eine gewisse Könnerschaft beim Hervorbringen von Musik, oder beim Anfertigen von Zeichnungen (heute wird statt dessen "geknipst"), oder beim Verfassen von Gelegenheitsgedichten.Diese Zeit des qualifizierten Dilettantismus ist vorbei, die künstlerische Arbeitsteilung hat sich verfestigt im Kulturindustriesystem.Das will ich gar nicht bejammern, nur feststellen.Außerdem werden auch von den Nichtdichtern noch immer genug Gedichte geschrieben: bei Seelenschmerz und Liebeskummer zum Beispiel.Dort hat das Gedicht seine Überlebensnische.Sonst ist es ja eine ziemlich vorgestrige Gattung, irgendwie fräuleinhaft, eine Freizeitkunst für Diplomaten, Zweitberufspoeten, Kulturbeamte und ästhetische Vorruheständler.Durs Grünbein ist nichts von alledem, sondern ein Vollprofi, wenn der Ausdruck fürs lyrische Gewerbe überhaupt irgendwie zulässig ist.Ich muß trotzdem sagen, daß mir auch bei ihm die Essays lieber sind als die Gedichte, denen immer die Denke unter der Metaphernkappe hervorschaut.Morgen um 21 Uhr liest Durs Grünbein im Buchhändlerkeller aus seinem neuen Gedichtband "Nach den Satiren".

Wem das zu pultig ist - Dichter am Pult, Lesung vom Blatt -, der kann am gleichen Abend, aber schon um 20 Uhr, in den Tränenpalast gehen.Auch dort ist Lyrik los - aber mit Jazz und so; mehr "action" halt.

In seinem Essay "Vulkan und Gedicht" erzählt Grünbein über die Epoche seiner Siebzehnjährigkeit: "Damals hatte ich angefangen, mir Notizen zu machen, kleine emphatische Schreibereien, die wie Gedichte aussahen und nur im engsten Kreis vorzeigbar waren." Den engsten Kreis, den kann man öffentlich haben, zum Beispiel am Sonntag um 20 Uhr beim "lauter niemand"-Autorentreff im Café Esperanza des Kulturhauses Mitte.Man darf Texte, vermutlich sogar Gedichte, vorlesen und kritisieren.

Im Theater am Antonplatz geht es am Freitag um 21 Uhr um "starke Frauen", womit die Weibinnen des Expressionismus gemeint sind.Weibinnen? Bitte schön, hier der O-Ton: "Ich raube in den Nächten/ Die Rosen deines Mundes,/ Daß keine Weibin Trinken findet./ Die dich umarmt,/ Stiehlt mir von meinen Schauern,/ Die ich um deine Glieder malte." - Das war der Kitschporno im Gedicht "Höre" von Else Lasker-Schüler.Es hat einen Poesiealbumschluß: "Fühlst du mein Lebtum/ überall/ Wie ferner Saum?" Fühlst du mein Lebtum? Das muß man erstmal bringen; das hätte - es ist, wie es ist - noch nicht mal Erich Fried hingekriegt.

"Jahrhundert"-Tip heute Pirandello: Die sechs Personen und ihren Autor will ich nicht empfehlen, zu ausgeleiert.Lieber was Winziges: "Die drei Gedanken des Buckelchens"."Bis zu neun Jahren war es gutgegangen: gut zur Welt gekommen, gut gewachsen.Mit neun Jahren hatte Clementina, wie wenn das Schicksal aus dem Schatten eine unsichtbare Tatze hervorgestreckt und sie ihr auf das Haupt gelegt hätte: - Bis hierher! -, plötzlich zu wachsen aufgehört.So einen Meter über der Erde oder wenig mehr." Die Erzählung findet sich in "Das dritte Geschlecht" (Wagenbach).

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