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Mann mit Stil. Primo Levi im Jahr 1980. Nach der ersten Veröffentlichung schrieb er viele weitere Erzählungen.

© imago images / Leemage

Vor hundert Jahren wurde Primo Levi geboren: Der KZ-Häftling, der das Schweigen über Auschwitz brach

Primo Levi schrieb in „Ist das ein Mensch?“ über seine Erlebnisse im KZ. Sein Buch wurde erst abgelehnt – und später zu Weltliteratur.

Im Dezember 1947 trat der Chemiker Primo Levi eine neue Stelle in einem Turiner Familienunternehmen an, das auf Ummantelungen von Kupferdrähten spezialisiert war. Er war 28 Jahre alt, seit drei Monaten verheiratet und brauchte Geld. Bei der SIVA verbesserte Levi die Formeln der Farbmischungen und entwickelte neuartige Lacke. Die Produkte waren enorm gefragt; ob Kühlschränke oder Automotoren, Kabelummantelungen wurden überall verwendet.

Gemeinsam mit seinem Chef fuhr Levi, der etwas Deutsch sprach, schon bald auf Geschäftsreisen nach Deutschland. Bei den Verhandlungen rutschte manchmal sein Ärmel hoch, und dann kam am linken Unterarm die eintätowierte Nummer zum Vorschein: 174517. Die Reaktion? Betretenes Schweigen.

Genau dieses Schweigen hatte Primo Levi, aus dem jüdischen Bürgertum gebürtig und als Partisan im Winter 1943 verhaftet, mit seinem autobiografischen Zeugnis „Ist das ein Mensch?“ überwinden wollen. Nach seiner Rückkehr aus Auschwitz habe er unablässig sprechen müssen, das Monströse in Worte fassen, seiner Familie gegenüber, seinen Freunden, aber auch Unbekannten, denen er etwa im Zug begegnete.

„Ich lebte mein Leben im Lager so rational, wie ich konnte, und ich schrieb das Buch über Auschwitz, um anderen ebenso wie mir die Ereignisse zu erklären, in die ich verwickelt worden war, aber nicht mit einer definitiv literarischen Absicht“, schilderte Levi 1986 dem amerikanischen Schriftsteller Philip Roth den ersten Impuls.

„Mein Modell (oder, wenn du das vorziehst, mein Stil) war der des Wochenberichts, wie er in Fabriken üblich ist: Präzise, klar und in einer Sprache, die jeder Unternehmensmitarbeiter verstehen kann.“ Der Chemiker betrachtete das Erlittene als Material: Er wurde zum Anthropologen seiner selbst, zu seinem eigenen Untersuchungsgegenstand.

Rang von Weltliteratur

„Ist das ein Mensch?“ zählt nicht nur zu den wichtigsten Werken über die Deportation und Ermordung der Juden in Auschwitz, es gewinnt durch seine zurückgenommene Erzählweise und die von Dante durchdrungene, klassische Sprache den Rang von Weltliteratur. Es ist die Darstellung der conditio humana unter Bedingungen, wie sie extremer nicht vorstellbar sind.

Was wird aus dem Individuum, wenn es durch die Umstände gezwungen ist, in jedem anderen einen Feind zu sehen? Dass Levi die Befehle verstand, half ihm ebenso wie seine zähe körperliche Konstitution. Er kam zunächst in einen Bautrupp, wo er auf den Maurer Lorenzo Perrone stieß, Arbeiter einer italienischen Firma, die nach Auschwitz entsandt worden war.

„Die hier beschriebenen Personen sind keine Menschen. Ihr Menschentum ist verschüttet, oder sie selbst haben es unter der erlittenen oder den anderen zugefügten Unbill begraben“, heißt es in seinem Buch. „Lorenzo aber war ein Mensch. Seine Menschlichkeit war rein und makellos, er stand außerhalb dieser Welt der Verneinung. Dank Lorenzo war es mir vergönnt, dass auch ich nicht vergaß, noch ein Mensch zu sein.“

Eines der zentralen Kapitel in „Ist das ein Mensch?“ bezieht sich auf Dante. Eines Morgens bittet ihn der Elsässer Student Jean Samuel, das Faktotum des Kapos, ihm bei der Verteilung der Suppe zu helfen. Auf dem Weg zur Küchenbaracke paraphrasiert Levi den „Gesang des Odysseus“ aus der Göttlichen Komödie, in dem Odysseus schildert, wie er im Meer untergeht. Das Heraufbeschwören der Terzinen wird zu einer Kraft, die den Tod zu bannen vermag. Inmitten der Barbarei leuchtet plötzlich etwas Anderes auf – nämlich das, was den Menschen ausmacht.

Gemeinsam mit einem Freund, dem Turiner Arzt Nardo De Benedetti, auch er ein ehemaliger KZ-Insasse, hatte Levi direkt nach der Befreiung noch in Kattowitz einen Aufsatz über die medizinische Versorgung im Lager verfasst. In Turin ergänzten die beiden Überlebenden den Artikel um Ausführungen zu den typischen Häftlingskrankheiten und veröffentlichen ihn 1946 in einer medizinischen Zeitschrift.

Es war eine der Keimzellen von Levis Buchmanuskript, das kurz darauf binnen weniger Monate entstand. Levi legte es dem Einaudi-Verlag vor, einem Haus, das für die intellektuelle Neuausrichtung Italiens eine enorme Rolle spielte. Die Schriftstellerin Natalia Ginzburg, die Witwe des Verlagsgründers und Widerstandskämpfers Leone Ginzburg, der von den Deutschen in der römischen Haft ermordet worden war, prüfte das Manuskript – und lehnte es ab. Levis Erzählweise wirkte auf sie zu traditionsgebunden.

Dabei vermittelt sein gleichmäßiger Satzbau, durch die Abfolge von Kommata, Doppelpunkten und Strichpunkten rhythmisiert, einen Zustand von beherrschter Erregung. Aber Dante, der immer wieder durchschimmert, war gebrandmarkt, zu sehr hatte man ihn für die faschistische Rhetorik missbraucht. Man bevorzugte einen anderen Stil: kruder, unpolierter, neorealistisch.

Primo Levi war tief enttäuscht. Später äußerte er Verständnis. „Natalias Ablehnung brachte eine umfassendere, kollektive Ablehnung zum Ausdruck. Die Menschen hatten keine Lust auf so etwas, sie hatten Lust auf andere Dinge, zum Beispiel wollten sie tanzen, Feste feiern, Kinder zur Welt bringen. Ein Buch wie das meine – und viele andere Bücher, die danach entstanden – war fast eine Unhöflichkeit, ein Spielverderber.“

Mit dem Ausmaß der systematischen Vernichtung und den Ursachen wollte man sich nicht befassen. Levi deutete es an: Damals zählte man die Millionen, die in Auschwitz und den über tausend Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet wurden, zu den Millionen Kriegstoten auf dem Kontinent hinzu. Der Begriff des Genozids war noch nicht geläufig. Es schien kein Paradigma zu geben, selbst in den jüdischen Gemeinden in Italien war die Haltung eher antihistorisch. Primo Levi, streng laizistisch, verortete die Juden in der Geschichte: „Ist das ein Mensch?“ lautete seine Frage.

Immerhin konnte Primo Levi sein Manuskript dann bei dem mutigen Kleinverlag De Silva unterbringen: Es erschien 1947 in einer Auflage von 2.500 Exemplaren. 1.400 wurden verkauft, die meisten in Turin. Levi hatte sich viel mehr erhofft. Erst 1958 kam es dann in einer leicht veränderten zweiten Fassung bei Einaudi heraus – und stieß auf enorme Resonanz, auch international. Der Chemiker ging weiter täglich in seine Fabrik, aber von nun an veröffentlichte er in regelmäßigem Rhythmus Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays und wurde zu einem der einflussreichsten italienischen Schriftsteller. Seine geistige Verfassung sei in Auschwitz „ungeheuer vital“ gewesen, erklärte er Philip Roth 1986. Ein Jahr später stürzte sich Primo Levi in seinem Wohnhaus am Corso Umberto, wo er fast sein gesamtes Leben verbrachte hatte, im Treppenschacht zu Tode.

Maike Albath

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