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Kultur: Vor Sonnenaufgang

Der Traum, aus dem unsere Filme sind: ein Nachtstück aus Deutschland / Von Tom Tykwer

Beispiel: eine wahre Geschichte. Man geht los, um einen Film zu produzieren, sagen wir einen Film von einem jungen Regisseur und Autor, der schon einen wirklich sagenhaft guten Debütfilm hingelegt hat, sagen wir zum Beispiel mit den zwei vielleicht bekanntesten deutschen jungen Schauspielern in den Hauptrollen, und sagen wir mit einem persönlichen, waghalsigen, lustigen, traurigen und sehr intensiven Drehbuch, mit einem ziemlich niedrigen Budget und sehr viel Enthusiasmus. Dann sagen die ersten ab, dann sagen die zweiten ab, aber die dritten sagen zu, und man setzt den Drehtermin fest. Dann sagen die vierten wieder ab, dann sagt ein Sender ab, dann verschiebt man den Dreh, dann sagen die fünften ab.

Dann sitzt man erstmal da, liest das Drehbuch noch mal durch und findet es eigentlich immer noch toll. Dann sagen die sechsten ab. Dann sagt der nächste Fernsehsender ab, tolles Projekt sagen sie, aber diese ganzen deutschen Kinofilme, das ist doch alles unbrauchbar für die Primetime, denkt doch mal an die Primetime, verdammt noch mal, die Primetime, wir ersticken doch bald unter all den Koproduktionen, für die es gar keinen Sendeplatz gibt, all diese Gurken, Entschuldigung Kinofilme, die wir um Mitternacht noch wegsenden müssen, wir können ja auch nichts dafür, dass die TVKultur sich so verändert hat, wir haben uns das auch anders vorgestellt, aber was sollen wir denn machen, wir machen ja nur das Programm, wir machen nicht die Zuschauer, na ja, aber wirklich tolles Projekt, also wirklich, nicht aufgeben, ganz toll, aber wir können das nicht machen...

Dann sagen die siebten ab, und dann sagen die achten ab, und dann verschiebt man noch mal. Dann liest man noch mal das Drehbuch, diskutiert mit dem Autor, stellt alles in Frage, korrigiert ein paar Details und findet heraus: Das Buch ist immer noch nicht schlechter geworden. Dann sagen die neunten ab, dann sagen die zehnten ab, und dann ist keiner mehr übrig, außer alle zehn in zweiter Instanz, auf die sich auch alle zehn wirklich freuen.

Dann liegt man abends im Bett und fragt sich, ob man etwas verpasst hat in der jüngsten deutschen Kulturgeschichte. Aber nein, man hat gar nichts verpasst, man weiß das ja alles, das ist immer schon besser geworden und immer schon das Gleiche gewesen, deswegen ist das Jammern auch läppisch und die Verwunderung töricht. Es fällt einem ein, dass man gern selber den markigen Spruch klopft, dass etwas, das wirklich gut ist, sich auch durchsetzt, egal wie, in welcher Situation auch immer, und zugleich dämmert einem, dass das natürlich auch schon immer so wenig wahr wie falsch gewesen ist. Und dass diese markigen Sprüche sowieso an der Komplexität der Situation vorbeizielen.

Tanz der Irrlichter

Und während man langsam einschläft, sucht man nach den Schuldigen und den Bösen, und je dunkler die Nacht um einen herum wird, desto sichtbarer wird es, das Böse, aber es ist so unangenehm weich und waberig und entgleitet so leicht, denn es ist viel öfter in singulären und jeweiligen Haltungen, Situationen, Gesten, Perspektiven, Gewohnheiten, Schlampigkeiten, Unachtsamkeiten, Überforderungen – und viel seltener in einzelnen Personen verankert.

In der Schwere des einsetzenden Schlafs ist das Böse, das den deutschen Film befallen hat wie ein Geschwulst, ein Prinzip, in dem wir immer noch feststecken und von dem sich zu befreien zuallererst nur im Kopf gelingt, nicht im Fördertopf, nicht im Personalgeschacher, nicht in diesen ganzen Ablenkungsmanövern. Der Kopf ist träge geworden im deutschen Film, ein bisschen ballaballa von ein paar Monaten Geldhysterie um die Jahrtausendwende und vielen satten, sorg- und sinnlosen Irrlichtern, die aus dem ganzen Bluff-Feuerwerk herausplatzten. Endgültig also hassend, zufrieden tief und richtungslos hassend, schläft man dann ein und fängt endlich an, richtig zu träumen, den Hasstraum vom deutschen Kino.

Es drängt sich die unangenehme Wahrheit auf, dass nicht nur die Strukturen, sondern die Filme selbst oft befallen scheinen von diesem geheimnisvollen Virus, und es tanzen all die Füllsel wie betrunkene Leerstellen vor einem herum und quälen einen, auf dass man sie nie vergesse:

Das aseptische, das geleckte, das biedere, das breitbeinige, das verklemmte, das pseudoamerikanische, das apolitische, das politisch korrekte, das irgendeiner Aktualität nachrennende, das verzweifelt nach Skandal schielende Kino. Die seltsame Ordnung in allen Bildern. Die beängstigende Unordnung in den Ideen. Die zu Tode gescriptdoktorierten Drehbücher. Die bis zum Abwinken ausgelutschten Erzählformeln. Die Gleichheit der Dialoge. Die Duplizität der Sätze. Die Förderungen im Fernsehgriff. Die Produzenten im Fördergriff. Die Regisseure im Produzentengriff. Die Unfähigkeit zum Zweifel. Die Verweigerung des Bruchs. Die zwanghafte Auflösung aller Widersprüche. Die Primetime. Die Quote. Das Bedauern. Tut mir leid. Wir würden ja gern, aber was sollen wir machen. Wenn die Leute sowas gucken würden, würden wir es auch gern finanzieren. Die Primetime. Das Kino? Welches Kino.

Und als schließlich die Sonne langsam wieder durch den Schlitz im Vorhang kriecht, wird der Traum plötzlich warm und lockerer, und nicht mehr hassenswert. Denn es gibt ein paar Leerstellen, die füllen sich, und sie tanzen den Tanz der Hoffnung.

Das Schimmern von Marie Bäumer, das Lächeln von Hannelore Elsner, das Strahlen von Franka Potente, das Leuchten von Nicolette Krebitz, das Glühen von Nina Hoss. Das Zwinkern von Heino Ferch, das Schmunzeln von Joachim Król, das Grinsen von Moritz Bleibtreu, das Lachen von Benno Fürmann, das Geiern von Jürgen Vogel. Die Stille von Angela Schanelec. Die Ruhe von Christian Petzold. Die Strenge von Romuald Karmakar. Die Inbrunst von Oskar Roehler. Das Sentiment von Caroline Link. Die Neugier von Dominik Graf. Die Leidenschaft von Rosa von Praunheim. Die Wehmut von Dani Levy. Die Demut von Andreas Dresen. Die Anmut von Achim von Borries. Der Unmut von Ulrich Köhler. Die Präzision von Hans Christian Schmid. Die Sorgfalt von Wolfgang Becker. Die Triebhaftigkeit von Hans Weingartner. Die Lakonie von Detlev Buck.

Bei dem klingelt dann der Wecker. Und man sagt sich: Es muss alles anders werden. Aber zuallererst im Kopf.

Tom Tykwer, Regisseur von „Lola rennt“ und „Heaven“, lebt in Berlin. Diese Rede hielt er während der Berlinale bei der Veranstaltung der Deutschen Filmakademie „Was ich am deutschen Film hasse“. Gemeinsam mit den übrigen Statements, u.a. von Jürgen Vogel, Dominik Graf und Bernd Eichinger, ist sie ab Mitte kommender Woche auch auf www.deutsche-filmakademie.de zu finden.

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