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Kultur: Vorläufer und Vorbild

Wie ein Wunder mutet an, daß Musik, die der Dreißigjährige Krieg verschwinden ließ, nun auf verwachsenen Wegen doch noch zu uns kommt. Am Ende der Bach-Tage unternahmen die beiden von Roland Wilson geleiteten und in freizügigste Klangsymbiose versetzten Kölner Ensembles "Musica Fiata" und "La Capella Ducale" einen gezielten und mutigen Sprung in Bachs Vorwelt.

Wie ein Wunder mutet an, daß Musik, die der Dreißigjährige Krieg verschwinden ließ, nun auf verwachsenen Wegen doch noch zu uns kommt. Am Ende der Bach-Tage unternahmen die beiden von Roland Wilson geleiteten und in freizügigste Klangsymbiose versetzten Kölner Ensembles "Musica Fiata" und "La Capella Ducale" einen gezielten und mutigen Sprung in Bachs Vorwelt. Wer nur auf das horcht, was vom späten Pyramidengipfel des Barocks überliefert ist, dem entgeht, wovon Bach selbst nur ein blasser Widerschein war. Gerade das Konzert im Berliner Dom aber machte deutlich, wie wenig man Johann Hermann Schein und seinen Zeitgenossen Genüge tut, wenn man sie immer nur als "Vorläufer Bachs" erinnert. Denn diese noch ungedruckten, zu Begräbnissen, Hochzeiten und Ratsfeierlichkeiten entstandenen Vokal-Instrumental-Kompositionen sind kräftiges, klangaktives, textausdeutendes Sein. Man fragt sich, was man mehr bewundern soll: die enorme Klangpracht, die sich auf teilweise dürrem Stimmgerüst durch bis zu 24stimmig aufgestockte, wechselnde Besetzung entfaltet, oder die fast unglaubliche Gabe, noch Texte wie "Ich will schweigen" in musikalisch beredte Figuren zu verdolmetschen.Nicht nur stellte bereits Schein vieles dem Belieben der Vortragenden anheim, zusätzlich erzwang die Überlieferungsgestalt einiger Kompositionen eine sorgfältig historisierende Aufführung, die bis in die Auswahl der apartesten (und an diesem Abend vorzüglich bedienten) Instrumente hinein eine ausgesprochen glückliche Hand verriet. Wilson präsentierte die Werke als Sammlung geistlicher Konzerte, wie Schein sie als Thomaskantor veranstaltet haben könnte oder gerne in Druck gegeben hätte. Bei vielerlei Versuchen, der tückischen, aber barocken Akustik des Doms zu entkommen, gelang es dem Vokalensemble, die Waage zu halten zwischen objektiv darstellbarem religiösem Affekt und subjektivem Überschwang des Ausdrucks.Wäre dieses Konzert ein Anlaß, sich verstärkt jener von Bach selbst geübten Hochachtung vor "einer ehemaligen Musik" zu befleißigen, so wäre das kein schlechter Abschluß der Bach-Tage gewesen.

PETER SÜHRING

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