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Wachsende Ausgrenzung: Wissenschaftler schlagen Systemalarm

Sündenböcke gesucht: Warum die Weltwirtschaftskrise die Demokratie gefährdet. Unruhen drohen allerdings nicht, die Wut bleibt privat.

Die Finanzkrise, die sich nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank im September 2008 zur globalen Wirtschaftskrise ausweitete, ist bislang vor allem als ökonomisches Phänomen betrachtet worden. Weltweit pumpten die Regierungen Milliardenbeiträge in die Wirtschaftskreisläufe, um weitere Geldinstitute vor dem Kollaps zu bewahren und den Einbruch der Marktnachfrage etwa nach Autos abzufedern. Dieser Staatsinterventionismus, ironischerweise auch von erklärten Marktwirtschaftlern betrieben, hat in Deutschland dazu geführt, dass die Arbeitslosenzahlen deutlich geringer anstiegen als befürchtet. Mit der Erholung der Weltwirtschaft und dank der Segnungen eines „Wachstumsbeschleunigungsgesetzes“ könne man bald, so hofft die schwarzgelbe Regierung, zur alten Stabilität zurückfinden.

Dieser Optimismus wird nun erschüttert. Wissenschaftler hatten bereits länger vor einem „Dominoeffekt“ gewarnt, dem Durchschlagen der Finanzkrise auf die Gesellschaft. Jetzt löst der Bielefelder Pädagoge Wilhelm Heitmeyer gewissermaßen Demokratiealarm aus. Mit einer Forschungsgruppe untersucht der Konfliktexperte seit 2001 in einer Langzeitstudie die innere Befindlichkeit der Republik. Sein neuester Bericht über die „Deutschen Zustände“, zusammengefasst in einem gerade erschienenen Sammelband (Deutsche Zustände, Folge 8, hg. v. Wilhelm Heitmeyer, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 320 S., 15 €), kommt zu teilweise bestürzenden Befunden. Konstatiert werden „Desintegrations- und Abwertungsprozesse“ als Folge der Krise. So hat sich der Anteil der Deutschen, die glauben, im Vergleich zu anderen benachteiligt zu sein, deutlich vergrößert. Und während das Gefühl politischer Machtlosigkeit in Ostdeutschland schon länger vorherrscht, ist es nun auch in Westdeutschland signifikant gestiegen.

„Menschen verlieren sukzessive die Kontrolle über das eigene Leben“, warnt Heitmeyer. Die Konsequenz: Sie suchen nach Sündenböcken. Je größer das Empfinden ist, in Zeiten sinkender Normalarbeitsverhältnisse und sprunghaft wachsender „Mal-rein/mal-raus-Arbeitslosigkeit“ zum Opfer der Verhältnisse zu werden, desto stärker scheint auch die Bereitschaft zu einer „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ zu sein, die sich gegen „die Banker“ oder „Amerika“, aber auch generell gegen Ausländer oder Muslime richten kann. Ein Drittel der Befragten gab an, in Krisenzeiten könnten nicht länger die gleichen Rechte für alle Bürger gelten, gut 20 Prozent waren der Meinung, Minderheiten dürften keinen besonderen Schutz mehr erwarten. 60 Prozent vertraten gar die Auffassung, es müssten in dieser angespannten Lage bereits zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden. Die Zahlen beruhen auf statistisch repräsentativen Telefoninterviews, die im Sommer 2009 mit 2000 Personen im Alter von 16 bis 90 Jahren geführt wurden.

Erstaunlichweise ist die Ausgrenzung von Minderheiten bei den Befragten eng an das Gerechtigkeitsempfinden gekoppelt. Die Sorge vieler Menschen, ob sozialintegrative Kernnormen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness in der Krise noch ihre Gültigkeit behalten, führt zum „Wunsch nach Wiederbesinung auf Werte“. Gerade wer an die prinzipielle Gerechtigkeit der Welt glaubt, neigt, falls dieser Glaube erschüttert wird, zur Abwertung der Opfer und dem Vorwurf, sie hätten ihre Probleme selbst verschuldet. Diese Haltung, von den Forschern Claudia Dalbert, Andreas Zick und Daniela Krause als „Assimilationsfunktion“ geschildert, entspringt dem Wunsch, am eigenen Weltbild festzuhalten, frei nach dem Motto: „Die Leute bekommen, was ihnen zusteht.“ Einen Hoffnungsschimmer lässt die Studie. Mit Unruhen ist nicht zu rechnen. Es gibt kein Anzeichen kollektiver Mobilisierung, es bleibt, so Heitmeyer, bei „privater Wut“. Christian Schröder

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