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Kraft und Poesie. Wadada Leo Smith.

© Scott Goller

Wadada Leo Smith beim Jazzfest: Die Stille im Klang

Ein Fest der Timbres zwischen Erregtheit und innerer Ruhe: Der legendäre Trompeter Wadada Leo Smith kommt zum Berliner Jazzfest.

Von Gregor Dotzauer

Sein Reich hat viele Eingänge, doch keine Grenzen. Gleich von welcher Seite aus man es betritt, öffnen sich Landschaften von verschwenderischer Weite. Im Schroffen wie im Ätherischen atmen sie Raum nach oben und nach unten, Raum nach allen Seiten, Raum, der sich ausmessen lässt in extremen Intervallentfernungen, in kaleidoskopisch changierenden Formgebilden und einer Stille, die auch um die dichtesten Klangereignisse liegt. „Sound equals silence“, lautet die grundlegende Gleichung, die Wadada Leo Smith für seine Musik aufgestellt hat. Und weil sie dabei jeden kulturellen Herkunftscode überschreitet, fügen sich auch die afrikanische Mbira, ein Daumenklavier, oder die chinesische Pipa, eine Laute, mit ihren je eigenen Spielweisen in seine Welt ein.

Wadada Leo Smith komponiert für ein klassisches Streichquartett nicht grundlegend anders als für seine Jazzensembles, und wenn daraus bei allen Freiheiten, die seine Partituren lassen, nichts Austauschbares oder gar Beliebiges entsteht, liegt das daran, dass jeder Musiker dem Ganzen sein unverwechselbares Gepräge gibt – am allermeisten er selbst. Smiths Trompete kennt das Strahlen von Lester Bowie, das Kieksen von Don Cherry und ganz besonders das Fahle und Brüchige von Miles Davis, was nicht nur mit beider Faible für das gestopfte Instrument zu tun hat. Sturzbäche von Tonschauern regnen herab und steigen empor, unrein gepresst und gestottert und artikulatorisch befreit, ein Fest der Timbres zwischen Erregtheit und innerer Ruhe.

„Ich beschäftige mich nicht mit Harmonik, ich beschäftige mich mit Klang“, hat er einmal erklärt. In dieser Absolutheit ist das sicher übertrieben, aber fern der Mechanik bezifferbarer Akkordfolgen steht es für sein skulpturales Verständnis von Musik. Von ihm lebt auch das Great Lakes Quartet, mit dem Smith nun zum Berliner Jazzfest kommt. Eine Band, die seit ihrer sechsteiligen Hommage an die großen Seen Nordamerikas auf einer Doppel-CD bei seinem Hauslabel Cuneiform vor zwei Jahren schon wieder ihren Saxofonisten und ihren Drummer umbesetzt und nur den bewährten Bassisten John Lindberg behalten hat.

Statt Reproduktion originelle Konzepte

An die Stelle des kürzlich mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Henry Threadgill tritt Altsaxofonist Jonathon Haffner, und statt Jack DeJohnette, der mit Bassist Matt Garrison und Saxofonist Ravi Coltrane in einem eigenen Konzert zu hören ist, trommelt Marcus Gilmore. Doch nicht nur, weil Gilmore jeden Superlativ aushält, kann von Ersatz keine Rede sein. So sehr es in Smiths Formationen um musikalische Persönlichkeiten geht, so sehr geht es um Konzepte – und so wenig um die Reproduzierbarkeit von Werken. Von seinem Golden Quartet, das, erweitert um die Cellistin Ashley Walters, gerade die wieder sechssätzige Suite „American National Parks“ veröffentlicht hat, ist von der Ursprungsbesetzung mit Malachi Favors, dem verstorbenen Bassisten des Art Ensemble of Chicago, sogar nur noch er selbst übrig: Mit Pianist Anthony Davis und Drummer Pheeroan akLaff ist es dennoch das robuste Zentrum seiner Aktivitäten geblieben.

Daneben unterhält er Organic, eine Band, die die Schwebesounds des elektrischen Miles Davis aus der „Bitches Brew“-Ära mit vier Gitarristen in eine zeitgenössische Umgebung überführt. Und das Silver Orchestra, ein Ensemble wechselnder Größe, das die transponierenden Instrumente wie die Trompete in B oder das Altsaxofon in Es nicht auf ein gemeinsames tonales Zentrum einschwört, sondern sie in im schillernden Miteinander ihrer Polytonalität und Obertonüberlagerungen agieren lässt.

Erst vor Kurzem hat man Smith entdeckt

Wadada Leo Smith, am 18. Dezember 1941 in Leland im Bundesstaat Mississippi, geboren, war von 1967 an ein angesehenes Mitglied der Chicagoer Avantgarde-Zirkel rund um die afroamerikanische Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM). Mit den Rhythm’n’Blues-Erfahrungen seiner Jugendjahre im Herzen und dem zunächst bei der Armee erlernten Handwerk im Gepäck gründete er mit Anthony Braxton und dem Geiger Leroy Jenkins die kurzlebige Creative Construction Company. Doch erst jetzt, mit über siebzig Jahren, hat man ihn als Legende entdeckt. Vor allem die viereinhalb Stunden seiner um Ereignisse der Bürgerrechtsbewegung kreisenden Großkomposition „Ten Freedom Summers“ (2011), denen auch seine eigene Erfahrung mit der Segregation zugrunde liegt, haben ihm einen neuen Nimbus verschafft.

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Der späte Ruhm hat aber auch mit der Haltbarkeit seiner Aufnahmen zu tun. Smiths Anteil an dem, was Free Jazz hieß und er gerne in „Creative Music“ umbenennen würde, ist von hoher Subtilität. Man höre nur die abstrakten Gewebe, die er vor einem Vierteljahrhundert zusammen mit dem Bassisten Peter Kowald und dem Schlagzeuger Günter Baby Sommer beim Total Music Meeting im Charlottenburger Flöz schuf: Energiefelder von zart pulsierender Delikatesse, die mit dem brachialen freien Jazz, wie er in jenen Jahren beim Berliner Label FMP sonst oft zu Hause war, wenig gemein haben. Oder man staune über die Schattierungen von „A Cosmic Rhythm With Each Stroke“, eine der indischen Zeichnerin und Fotografin Nasreen Mohamedi gewidmete Suite, die er im Dialog mit seinem langjährigen Weggefährten, dem Pianisten Vijay Iyer, kürzlich für ECM aufnahm.

Das alles ist ohne tiefe Spiritualität nicht zu denken. Auf „Divine Love“, einer wegweisenden Aufnahme aus den späten Siebzigern mit dem Vibrafonisten Bobby Naughton und dem Saxofonisten, Flötisten und Klarinettisten Dwight Andrews, stand sie noch in Verbindung mit der christlichen Mystik und einer jamaikanischen Abart, dem Rastafarianismus. Zwischendurch beschäftigte ihn zenbuddhistisches Gedankengut. 2002 aber besuchte er Mekka, und hatte das Gefühl, angekommen zu sein. Ishmael Wadada Leo Smith war geboren.

Smith's eigene Symbolsprache

In der Praxis ist das auch ohne sein ureigenes Notationssystem Ankhrasmation nicht mehr möglich. Ankh steht für das altägyptische Henkelkreuz, Ras in der amharischen Sprache Äthiopiens für den Adelstitel des Führers und Ma für die Mutter. Smith beansprucht, mit Ankhrasmation eine vollgültige Symbolsprache geschaffen zu haben. Er bezeichnet die farbigen Zeichnungen, die auch als eigenständige Kunstwerke ausgestellt werden, als vom Einzelnen sorgfältig vorzubereitende „language scores“. Sie definieren die von ihm entwickelten Rhythmuseinheiten und geben Tempi vor. Das Ergebnis ist eine improvisierte Musik, die ihre Freiheit gerade daraus gewinnt, dass sie einem Minimum an Struktur folgt. In ihr sind die Musiker auch ausdrücklich gehalten, nicht imitatorisch aufeinander einzugehen, wie es in den Spiegelkabinetten und Echokammern des freien Spiels sonst üblich ist.

Ankhrasmation ersetzt die herkömmliche Notation nicht, es ergänzt sie um eine Musik des geregelten Zufalls, in die Smith Zeichen gebend eingreift. Man könnte auch sagen: Sie ist die Leiter, die es wegzuwerfen gilt, nachdem sie alle hochgeklettert sind. Smith hat ein und dieselbe Partitur sogar schon mehrfach aufgenommen und anschließend umbenannt. Er musste lachen, als er zugeben musste: Niemand hat es bemerkt.

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