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Christine Lemke-Matwey

© Jörg Schulze

Wagner-Werkstatt (8): "Ihr werdet stündlich un-be-gab-ter!"

Das gab's noch nie: Eine Journalistin, die in Wagners Allerheiligstes vorgelassen wird und dort die nächsten Wochen zubringen darf. Diesmal erklärt sie, warum die Anfälle des Regisseurs Hans Neuenfels auch ihr Gutes haben.

Wenn hier in den vergangenen sieben Folgen der Eindruck entstanden sein sollte, beim neuen „Lohengrin“ auf dem Grünen Hügel wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, man sitzt ein bisschen auf der Probe rum, geht thermen oder kneippen, lässt es sich in der „Genussregion Oberfranken“ deftig gut gehen und spricht auf dem Heimweg mit den Rehlein und Häslein am Waldesrand – dann ist dieser Eindruck falsch. Früher war Hans Neuenfels, der Regisseur, für seine Anfälle geradezu berüchtigt. Mit Tischen soll er geworfen haben, von leeren Weinflaschen und vollen Aschenbechern gar nicht zu reden, und gebrüllt hat er, dass sich die Bretter bogen. Selbst vor seiner Frau, der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar, hat er in dieser Beziehung nicht Halt gemacht. 1976, da probten sie in Frankfurt gerade Euripides’ „Medea“, ist die Trissenaar, die die Medea spielte, einmal schreiend davon gerannt: „Ich bin mit einem Schwein verheiratet!“ Die Ehe hält jetzt seit 45 Jahren.

Mit dem Brüllen tut Neuenfels sich heute ein bisschen schwer. Stimmlich, meine ich. Überhaupt ist das der tollste aller Kontraste: Oben auf der Bühne herrschen akustisch Gold- und Silbertöne, schwarzer Basalt bei Lucio Gallo alias Telramund, Perlmuttglanz bei Annette Daschs Elsa, ein einziges funkelndes Farbenmeer beim Chor, diesem wundervollen Chor – und unten im Saal ächzt und ätzt ein alter Blasebalg. Ich darf „alt“ sagen, weil Neuenfels selbst keine Gelegenheit verstreichen lässt, zu betonen, wie „alt“ er sei, nämlich 69! respektive „fast 70!“, das empfindet er offenbar wirklich als alt, was es nicht nur unter neuesten demographischen Erhebungen und Prognosen nicht ist. Auch Eva Wagner-Pasquier, 65, findet, sie sei „zu alt“ und viel zu spät im Leben auf den Grünen Hügel zurückgekehrt, aber das ist eine andere Geschichte. Als man sie vor 33 Jahren aus dem Festspielhaus warf, fand sie ihre persönlichen Dinge in einem Wäschekorb vor verschlossener Bürotür wieder. Den Korb soll es noch irgendwo geben. Besonders nett waren die Wagners nie zueinander.

Neuenfels’ Reibeisentimbre jedenfalls ist Legende, das Leben, wie es heißt, hat darin gründliche Spuren hinterlassen. Mit Gegenständen wirft er nicht mehr – was nicht bedeutet, dass sich der Zorn wesentlich abgekühlt hätte. Im Gegenteil. Temperament ist auch eine Frage der Kraft, und wenn man nicht mehr kann, wie man will, dann ist man grundsätzlich verzweifelt und wütend, über sich selbst, über die Welt, den lieben Gott, die Festspielleitung, den Probenplan, die Hitze, die ganze riesig anstrengende Wagnerei. Und die Angst des Regisseurs vor dem sich öffnenden Vorhang dürfte mit den Jahren und Erfahrungen auch nicht kleiner werden.

Doch Schluss mit solcher Küchenpsychologie. Das Nette an Neuenfels’ Anfällen ist, dass er sie meistens ankündigt. Und meistens trifft es seine Assistenten, was weniger nett ist, jene blutjungen emsigen Menschen, die alles für ihn tun würden und auch tun und an einem Probentag im Festspielhaus locker 14960 Treppenstufen laufen (es sind inzwischen elf Assistenten, eine aparte Norwegerin ist noch hinzu gekommen, 1360 mal 11, siehe Folge 2). „Ich kriege gleich einen Anfall!“, krächzt Hans Neuenfels also in sein Mikrofon, wenn das richtige Stichwort für den Chor fehlt oder die Technik ein Kommando nicht gehört hat und die Schwierigkeit mal wieder in der Kommunikation liegt, das heißt, entweder es kommunizieren sechs Assistenten dasselbe auf einmal oder es sagt keiner etwas, das liegt in der Natur der Sache. Die erste Stufe von „Ich kriege gleich einen Anfall!“ vollzieht sich im Piano. Die nächste Stufe ist ein sattes Mezzoforte. Und die letzte Stufe explodiert dann ordnungsgemäß im Fortissimo: „ICH KRIEGE GLEICH EINEN ANFALL!“. Der prompt folgt. Womit er es verdient habe, von lauter unfähigen und unmusikalischen, UN-MU-SI-KA-LI-SCHEN Mitarbeitern bedroht zu werden, brüllt das Reibeisen, der Chor blickt auf seine Fußspitzen, die Reporterin fängt an, in ihrer Tasche zu kramen. ÜBERHAUPT, IHR WERDET IMMER UNBEGABTER, STÜND-LICH UN-BE-GAB-TER. Der Dirigent im Graben, dessen Antlitz man oben über Monitor sieht, lächelt verlegen, versteht nicht nur sprachlich nicht, was los ist. PAUSE, SO-FORT PAU-SE!! Das versteht er. Das verstehen alle.

Das zweite Nette an Neuenfels’ Anfällen ist, dass sie so schnell verrauchen, wie sie hoch kochen (und dass der Assistent als solcher nicht nachtragend sein darf, sonst hat er den falschen Beruf). Es ist also alles ziemlich schnell wieder gut. Und das dritte Nette ist, dass Neuenfels im Zornesrausch ungeheuer poetische Sätze von sich schleudert. Sätze wie: „Auch Kriechtiere brauchen ihre Höhlen.“ Oder: „Bei den Griechen galt die Kniekehle als Sitz der Seele, als äolischer Teil.“ Das kann man dann mit nach Hause nehmen und am Waldesrand vor den Rehlein und Häslein ausbreiten. „Es gibt ein Glück, das ohne Reu“, singt Elsa im zweiten Akt des „Lohengrin“, auf der Probe wurde darüber viel diskutiert. Ich kann nur sagen: Für mich gibt es das in diesem Sommer 2010 wirklich.

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