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Klänge aus der Stille bergen. Luigi Nono Anfang der achtziger Jahre. Foto: contrasto/laif

© GIANNI BERENGO GARDIN/CONTRASTO/laif

Kultur: Wanderklänge und Blechsirenen

Ingo Metzmacher und André Richard reanimieren Luigi Nonos „Prometeo“

Es gibt eine Fotografie, die zeigt die Salzburger Kollegienkirche während der Arbeit zu Luigi Nonos „Prometeo“: Scheinwerfer erhellen die Decken, Lautsprecher recken die Köpfe, Kabelschnüre reichen von einer der vier Musiker-Tribünen zur anderen. Und unten am Mischpult, vor der riesig hohen Partitur dieses einzigartig enigmatischen „Musiktheaters“, sitzen der Schweizer Komponist und Nono-Vertraute André Richard und der deutsche Dirigent Ingo Metzmacher und diskutieren ein Problem. Metzmacher im gestreiften Hemd beugt sich ein klein wenig zu Richard hinüber, er ist der Jüngere, der Schweizer hat zehn Jahre mehr „Prometeo“-Erfahrung und Autorität.

Dieses Bild der Fotografin Charlotte Oswald könnte heute sein (nur dass am Mischpult nicht mehr die Lettern des SWF prangen, sondern die des SWR) – und ist doch exakt 18 Jahre alt. 1993, Gerard Mortier leitet die Salzburger Festspiele, ein heißer Kopf und nicht gerade der Intimus der Salzburger Getreidegassen-Schickeria. Mortier sagt nicht nein, als ein junger Pianist und ein Gesangsstudent mit der Idee auf ihn zukommen, im Rahmen der Festspiele einen Satelliten für Neue Musik ins Leben zu rufen. Das „Zeitfluss“-Festival wird gegründet, der Pianist ist der heutige Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser, die Aufführung von Nonos „Prometeo“ eine seiner ersten (längst legendären) Taten. Berührend zu sehen, wie jung auch Metzmacher damals gewesen ist, das Haar noch ganz dunkel, die Gesichtszüge weich.

2011 spielen sie in der Kollegienkirche erneut „Prometeo“, erneut mit Ingo Metzmacher und André Richard, und man darf sich fragen, wie das Ganze wohl verstanden werden möchte. Als Wiederholung respektive Wieder-Holung (ein Wort, das Hinterhäuser liebt) eines quasi historischen Ereignisses? Als dessen Überprüfung? Als Reminiszenz an die eigene Jugend, als kleine große Sentimentalität? Die beiden Aufführungen sind restlos ausverkauft, um dem Ansturm nicht ganz zu erliegen, hat man die Generalprobe fürs Publikum geöffnet. Nicht wenige Zuhörer, die heute den Weg zu Luigi Nono suchen, zu seiner hoch abstrakten, politisch-philosophisch-utopischen Lesart, seiner Hörart des Prometheus-Mythos, haben die damalige Aufführung als Initiation in Sachen Neue Musik begriffen, als einen Weckruf der eigenen Wahrnehmung.

„Prometeo“, von Nono als „Tragödie des Hörens“ bezeichnet (Tragedia dell’ascolto), wird 1984 in Venedig uraufgeführt. Der Architekt Renzo Piano stellt dem Komponisten damals ein hölzernes Auditorium in die Kirche von San Lorenzo, die berühmte „Struttura“, es gibt Live-Elektronik und Farbprojektionen, das Ganze gehorcht einem wissenschaftlichen Raumklang-Klangraumkonzept. Bei späteren Aufführungen (erstmals 1988 auch in Berlin) verzichtet man auf die Struttura, zu teuer, auch die Projektionen fallen weg. Was bleibt, ist die Herausforderung, sich mit der Partitur jeden Raum, ob Kirche, Fabrikhalle oder Konzertsaal, neu zu erobern und zu erarbeiten. Musik, sagt Nono, ist vornehmlich eine Frage der Stille, der Nicht-Kunstausübung. Leben heißt, „zu wissen, wie das Unsichtbare zu sehen und das Unhörbare zu hören ist. Zu einem absoluten Minimum der Hör- und Sichtbarkeit kommen.“

Es wäre allerdings interessant, zu erforschen, wie sich der politische Gehalt des Werks durch die Jahrzehnte tradiert. Genügt es, heute mit einer nur vagen Ahnung des Prometheus-Mythos in der Kollegienkirche zu sitzen und sich Luigi Nonos magischen Wanderklängen lediglich auszusetzen? Das Hören, das Zuhören üben, den Laut- und Gesprächsfetzen, den minutiös gesponnenen Gesangsfäden und kathedralischen Blechsirenen über zweieinhalb pausenlose Stunden auf der Fährte bleiben, sich ihnen hingeben: Ist das 2011 bereits – im Gegensatz zu 1984 und 1993 – ein politischer, weil bewusster, sich gegen alle gesellschaftlichen Gepflogenheiten wendender Akt? Ist das Politische im 21. Jahrhundert so esoterisch geworden?

Oder sollte man, um zu verstehen, so viel wie möglich wissen? „Prometeo“ ist eine geradezu furchterregend komplexe Partitur: Nicht nur die musikalische Ebene spaltet sich zwischen den auf vier Tribünen im Kirchenschiff verteilten Interpreten (Gesangs- und Instrumentalsolisten, die Schola Heidelberg, das Ensemble Modern Orchestra, das Experimentalstudio des SWR) permanent auf, vertikal, horizontal, von den Zeitmaßen und wechselnden Besetzungen her (Ingo Metzmacher erhält hier Unterstützung durch Matilda Hofmann als zweiter Dirigentin oben auf der Kanzel). Auch die textliche Ebene – von der, sehr programmatisch, außer „Ascolta!“ (Höre!) kaum ein Wort ernsthaft verstanden werden soll – könnte zwischen Aischylos, Hölderlin, Rilke, Nietzsche & Co. nicht gewichtiger mäandern.

Sollte man sich also vorab in Massimo Cacciaris Libretto versenken, eine im Wortsinn feuilletonistische Textmontage? Muss man um Hölderlins Pindar-Rezeption wissen und um die Bedeutung der marxistischen Schriften Max Webers für Nono? Schlimmer noch: Muss ich die von haarfeinen Mikrointervallen gelenkten Prozesse chaotischer Klangzersetzung und hypnotischer Klangverschmelzung identifizieren können, um teilzuhaben am Drama des Prometheus-Prometeo, der den Menschen das Feuer brachte und damit ihre Gottferne besiegelte?

Sagen wir so: Schaden kann es nicht, hier und da etwas dazuzulernen. Letztlich aber entziehen sich Nonos Genie und Geheimnis allem nur Analytischen (was kein Alibi sein darf fürs geistige Alle-Viere-von-sich-Strecken!). Die Wahrheit, sie lässt sich nur erhören, leibhaftig erfahren, im Widerstreit der Sinne und Gedanken. Am ergreifendsten im Interludio Nr. 1, wo Schicksal und Zufall einander begegnen, Altstimme und Solobläser, „sempre ppppp possibile“, und die Kollegienkirche dröhnend schweigt.

Am 16. und 17. September jeweils um 18.30 Uhr kommt die Salzburger Aufführung im Rahmen des Musikfestes Berlin in den Kammermusiksaal der Philharmonie.

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