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Kultur: Warum ist Salomon Korn so wütend?

Die Flick-Debatte: über die deutsche Erinnerungskultur und das neue europäische Geschichtsbewusstsein

Zwei Aspekte sind eigenartig in der Auseinandersetzung um die Flick-Collection: der Zeitpunkt sowie die Wort- und Tonwahl Salomon Korns. Wieso ist der Streit um den Standort Berlin jetzt erst in Gang gekommen und eskaliert? Dass die Sammlung von Friedrich Christian Flick hier eine Heimat bekommen soll, ist seit rund einem Jahr bekannt. Vor allem aber: Was ist nur in Salomon Korn, den Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, gefahren, wenn er die Ausstellung der Flick-Sammlung „eine Art Weißwäsche von Blutgeld“ nennt? Zwar übt er oft scharfe Kritik, formuliert jedoch sonst stets leise und präzise.

Zu klären ist dies nicht im Sinne einer individualpsychologischen Analyse. Es geht vielmehr um die Frage, wieso Juden und Nichtjuden zurzeit immer häufiger in heftigste Kontroversen geraten. Sei es beim Holocaust-Mahnmal, beim Buch eines deutschen Schriftstellers vom Bodensee, bei den Äußerungen eines fallschirmspringenden Politikers oder bei einer Sammlung zeitgenössischer Kunst.

Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel, der Diskussionen um die Vergangenheit geradezu auslösen muss. Während die meisten Täter des Holocausts gestorben sind, leben die Opfer zum Teil noch. Diese Verschiebung ist einfach zu erklären: Ein heute 68-jähriger Deutscher konnte 1944 kein Täter sein, ein 68-jähriger Jude sehr wohl ein Opfer. Während also auf der nichtjüdischen deutschen Seite die so genannte „Erinnerungskultur“ längst in die Hände der nächsten Generation, der „Kinder der Täter“, übergegangen ist (hier muss man genau sein: Im Grunde waren sie es, die die Erinnerung erst ausgegraben haben, da die Tätergeneration sich nicht erinnern wollte), ist auf jüdischer Seite die Übergabe der Erinnerung jetzt erst in vollem Gange.

Hinzu kommt: Die jüdische Erinnerung ist älter als die deutsche. Selbst wenn in so manchen jüdischen Familien nicht über die Shoah gesprochen wurde, der Verlust von Familie, Heimat und Besitz war stets präsent. Schon in der Kindheit wusste die „zweite Generation“ Bescheid und erlebte die Folgen der psychischen Destruktion der Eltern. Es ist diese Generation, zusammen mit einer dritten, die sich jetzt überlegen muss, wie man jüdische Erinnerung bewahrt.

Während auf nichtjüdischer Seite eine Historisierung des Holocaust einsetzt, und somit auch eine Ent-Emotionalisierung, sind es gerade die Gefühle, die auf jüdischer Seite immer deutlicher hervortreten. Zwar haben die Kinder der Opfer die Shoah nicht selbst erlebt, sie sind nicht mehr das personifizierte Leid, dem man in Deutschland ja noch einen gewissen Respekt und Verständnis entgegenbrachte – Andreas Nachama musste zu Beginn seiner Amtszeit als Präsident der Jüdischen Gemeinde im Berliner Senat diesen Unterschied erleben. Aber – und das mag paradox klikngen – es ist eben diese zweite Generation, die das Emotionale stärker betonen kann als die wirklichen Opfer, da diese ihre Gefühle unterdrückten, ja verdrängen mussten, um überhaupt weiterleben zu können.

Die heute existierende Erinnerungskultur in Deutschland entstand erst in den Achtzigerjahren. Der zeitliche Abstand zum Holocaust war ebenso notwendig wie eine wachsende Flut an Informationen und Forschungsergebnissen, die das ganze Ausmaß des Judenmords erst verdeutlichten. Wie man sich dessen nun erinnern soll – darüber gab es lange keine wirkliche Debatte.

Jetzt wird die Frage neu gestellt. Die Auseinandersetzungen um Jürgen Möllemann und Martin Walser, um nur zwei jüngste Beispiele zu nennen, zeigen die immer größere Aufgeregtheit zwischen Juden und Nichtjuden. Wie bewahrt man die Erinnerung an die Shoah in einer Umwelt, die sich reziprok zur jüdischen Erfahrung zunehmend desinteressiert an der Tragödie zeigt? Wie bewahrt man das Verständnis für die Singularität der Shoah, wie macht man sie einer Umwelt gegenüber deutlich, die in ihrer neuen Unbefangenheit Beleidigungen und Verhamlosungen achselzuckend oder rechtfertigend hinnimmt? Noch dazu in einer Zeit, in der durch die EU-Osterweiterung eine neue kollektive Erfahrung die Erinnerung an die Shoah weiter zurückzudrängen droht?

Der Eklat um die Eröffnungsrede der damaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete bei der Leipziger Buchmesse ist noch in bester Erinnerung. Sie hatte das Leid der osteuropäischen Völker unter kommunistischer Herrschaft in den Vordergrund gestellt und dieses mit dem Leid der Juden gleichgestellt, wenn nicht sogar betont. Auch damals war es Salomon Korn, der empört reagierte. In gewisser Hinsicht hatte er Recht. Die osteuropäischen Nationen haben noch viel zu tun, um ihren Anteil an der Shoah aufzuarbeiten. Allerdings wird die größere EU logischerweise auch erneut mit dem Roten Terror beschäftigt sein, sind doch Schmerz und Trauer seiner Opfer in der emotionalen, wenngleich nicht in der politischen Dimension mit dem Leid der Holocaust-Opfer auf eine Stufe zu stellen. Ein neues kollektives Geschichtsbewusstsein hält Einzug in Brüssel.

Wenn man Salomon Korns Reaktionen bei der Buchmesse und jetzt in der Diskussion um die Flick-Sammlung pars pro toto bewertet, wird verständlich, warum der Furor so groß ist. Der Holocaust droht, trotz aller Erinnerungskultur, in den Hintergrund der europäischen Geschichte zu rücken und banalisiert zu werden. Wäre das so schlimm, könnte man ketzerisch fragen? Muss der Holocaust nicht ein ähnliches Schicksal erleben wie andere geschichtliche Ereignisse auch? Hier ist ein klares Nein auszusprechen, da die Folgen des Judenmordes immer noch aktuell sind und europäische Kultur und Tradition nach wie vor prägen. Immerhin feiert der Antisemitismus auf diesem blutgetränkten Kontinent gerade wieder fröhliche Urständ. Schlimmer noch: Wenn ein liberaler Politiker mit antisemitischen Äußerungen Wahlkampf machen darf, wenn Literaturkritiker sich in langen Essays daranmachen, Martin Walsers antisemitisches Machwerk zu verteidigen, wenn in der Öffentlichkeit immer häufiger vom Holocaust als Episode der deutschen Geschichte die Rede ist, darf es nicht verwundern, dass die jüdische Reaktion auf diese neue Selbstgerechtigkeit lauter wird. Zumal die Selbstgerechten gerne auch noch auf vermeintliche Ähnlichkeiten zwischen Nazis und Israelis verweisen.

Die Frage ist nicht, ob Flicks Sammlung ausgestellt werden soll. Doch Flick hat es noch stets versäumt, durch persönliche Anstrengungen deutlich zu machen, dass er mit dem Erbe seiner Familie verantwortungsvoll umzugehen weiß. Alle, die ihm nun helfend zur Seite springen und sich über überzogene Formulierungen wie „Göring-Collection“ aufregen, beweisen lediglich, dass die Kluft zwischen Juden und Nichtjuden größer wird. Auf der einen Seite wachsende Empörung und Enttäuschung, auf der anderen zunehmende Wurstigkeit. Der Paradigmenwechsel hat gerade erst begonnen. Die Auseinandersetzungen werden noch schärfer werden.

Richard Chaim Schneider

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