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Kultur: Warum muss die Kunst schmerzen, Frau Holzer?

Jenny Holzer lebt seit einigen Tagen als Stipendiatin der American Academy in Berlin. Die 1950 in Gallipolis, Ohio, geborene Künstlerin studierte in den siebziger Jahren an der University of Chicago sowie der Rhode Island School of Design.

Jenny Holzer lebt seit einigen Tagen als Stipendiatin der American Academy in Berlin. Die 1950 in Gallipolis, Ohio, geborene Künstlerin studierte in den siebziger Jahren an der University of Chicago sowie der Rhode Island School of Design. Seit sie vor zwanzig Jahren am Times Square in New York ihre provozierende Sinnsprüche ("Folter ist barbarisch", "Geld erzeugt Geschmack") platzierte, ist sie eine der gefragtesten Produzentinnen von Kunst im öffentlichen Raum. Vor allem in Deutschland erhielt Holzer zahlreiche Aufträge, etwa für das Goerdeler-Denkmal in Leipzig oder das Oskar-Maria-Graf-Denkmal in München. Für den Berliner Reichstag schuf sie im vergangenen Jahr eine ihrer schon klassischen Textsäulen mit Politiker-Reden. Das Gespräch führte Nicola Kuhn.

Frau Holzer, wenn Sie an Berlin denken, was kommt Ihnen als erstes in den Sinn: die Vergangenheit oder die Gegenwart?

Eher die Vergangenheit, schließlich wissen wir mehr über das, was war, als darüber, was kommen wird. Dafür scheint mir die Gegenwart hier doch recht lebendig zu sein.

Ihr Beitrag für den Reichstag schafft eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Ortes, indem dort gehaltene Reden permanent über ein digitales Laufband spulen. Wie funktioniert die Arbeit, seitdem die Politiker dort tagen?

Ein konkreter Effekt ist natürlich nicht zu erkennen. Ich kann nur Reaktionen beobachten. Zum Beispiel Passanten, die anhalten, um sich die Texte genauer anzuschauen. Einige gehen daraufhin erst in den Reichstag hinein. Das ist doch hervorragend.

Und wie reagieren die Politiker auf die Reden ihrer Vorgänger?

Das werde ich während meines Aufenthalts hier in Berlin hoffentlich noch erfahren.

Sie haben sich intensiver mit der Geschichte des Reichstages beschäftigt als die meisten deutschen Künstler. Wie kamen Sie darauf, Politiker-Reden zu zitieren?

Als ich feststellte, dass ich selber nichts Adäquates oder Akkurates über den Bau und damit über die Geschichte Deutschlands schreiben könnte, musste ich nach einem anderen Inhalt suchen, den ich dann in den Reden gefunden habe. Gleichzeitig habe ich mich daran erinnert, was der Architekt Norman Foster über seine Idee des neuen Gebäudes gesagt hatte: Es sollte transparent sein, von allen Seiten einsehbar. Deshalb wollte auch ich die hier gehaltenen Reden sichtbar machen. Sie sollten zugleich für die Passanten nach außen und für die Politiker nach innen gerichtet sein.

Sie zitieren die ausgewählten Reden komplett, selbst mit Zwischenrufen, was ihnen eine besondere Authentizität verleiht.

Ich wollte zeigen, was wirklich gesagt wurde - unkommentiert, einfach als Tatsache. Es waren gute Dinge, schreckliche und dumme, aber auch lustige.

Als Künstlerin repräsentieren Sie mit ihrer Arbeit im Reichstag die Vereinigten Staaten.

Das erstemal wurde mir diese Ehre 1990 zuteil, auf der Biennale von Venedig. Zuerst dachte ich, ich würde ohnmächtig werden, aber dann begann ich darüber nachzudenken, was ich machen könnte.

Werden Sie sich bei Ihrem jetzigen Aufenthalt stärker mit der Gegenwart Berlins beschäftigen?

Als erstes will ich meinen Beitrag für den Reichstag beenden und dreißig weitere Reden hinzufügen, für die es noch Kapazität gibt. Als nächstes bereite ich eine Ausstellung für die Neue Nationalgalerie vor. Sie wird im kommenden Jahr stattfinden.

Sie hatten zuvor Ausstellungen bei Guggenheim in New York und Bilbao, zwei sehr dynamischen, kurvenreichen Gebäuden im Vergleich zu dem sehr klaren Mies van der Rohe-Bau. Wie werden Sie auf die Besonderheit dieses Baus reagieren?

In Bilbao habe ich der Architektur eine gerade Linie entgegengesetzt. In Berlin würde es also Sinn machen, eine Kurve in der Mitte des perfekten Quadrates anzulegen. Aber ich weiß es noch nicht: entweder geradlinig wie das Gebäude selbst oder eine Gegenreaktion.

Sie arbeiten nicht nur in Museen und Innenräumen, sondern auch im öffentlichen Raum. Warum ist es notwendig, dort mit Kunst zu intervenieren?

Der öffentliche Raum wäre langweilig ohne Kunst. Das ist sicher. Es gibt eine große Tradition von guter und schlechter öffentlicher Kunst, und es wäre doch schade, damit nicht fortzufahren.

Das klingt aber sehr defensiv.

Die Chance, Menschen im öffentlichen Raum anzusprechen, sollte man nicht versäumen, wenn man entsprechend arbeitet. Auf diese Art und Weise habe ich angefangen: einfach auf der Straße.

Ihr Markenzeichen seit den achtziger Jahren sind die "truisms", digitale Laufbänder mit Sinnsprüchen, auf denen Sie die Menschen mit Wahrheiten konfrontieren und zur Stellungnahme zwingen. Glauben Sie, dass diese Strategie angesichts der Benetton-Kampagnen noch funktioniert?

Ich arbeite eher wie ein Volksredner, der sich in einem Park äußert, und nicht wie die Werbung. Aber es stimmt natürlich, dass Benetton konkrete Nachrichten aus der realen Welt in seine Werbung integriert. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Ich verkaufe keine Pullover.

Stumpfen die Menschen dadurch nicht zunehmend gegenüber solchen provozierenden Aussagen ab?

Es kommt immer darauf an, wie man es macht. Die gleichen Informationen sind auch über die Nachrichten zu bekommen; auch dort können sie wahrgenommen oder ignoriert werden. Aber ich versuche, sie auf eine Weise zu vermitteln, dass die Menschen die Information nicht nur registrieren, sondern dabei auch etwas empfinden und sich solange daran erinnern, bis sie vielleicht etwas unternehmen.

Eine wirklich spektakuläre Aktion war damals das Drucken des SZ-Magazins mit Anteilen menschlichen Blutes, um auf die Gräueltaten gegenüber bosnischen Frauen hinzuweisen. Würden Sie eine solche Aktion noch einmal wiederholen?

Wenn es Sinn machen würde - natürlich. Diese Arbeit erklärt auch das vorher Gesagte. Jeder kennt die Fakten durch die Nachrichten, aber nicht jeder kümmert sich darum. Meine Aktion hat die Menschen zu einer Auseinandersetzung gezwungen.

Hatte die Aktion auch politisch Wirkung?

Das ist schwer festzustellen. Interessanterweise gab es geschlechtsspezifische Reaktionen. Männer hielten die Aktion eher für unverantwortlich. Frauen empfanden es meist als angemessen, ein Verbrechen zu verdeutlichen, indem man die Menschen buchstäblich dazu zwingt, mit ihm in Berührung zu bekommen, wenn sie die Zeitung in den Händen halten.

Die emotionale Reaktion ist also entscheidend?

Die Dinge summieren sich. Erst jetzt wurden diese Taten als Kriegsverbrechen anerkannt, auf eine ganze Reihe von Anstrengungen hin. Meine Arbeit hat einen Beitrag dazu geleistet.

Beschäftigen Sie sich auch weiterhin mit dem Thema "Frauen als Opfer des Krieges"?

Nicht als Opfer - als Angriffsziele des Krieges. Ja, ich schreibe da gerade an etwas, über das ich noch nicht sprechen kann. Aber es bleibt ein zentrales Thema für mich.

Sie gelten als das schlechte Gewissen der zeitgenössischen Kunst. Nervt sie das?

Das ist doch schmeichelhaft, auch wenn dieser Job eine Nummer zu groß für mich ist.

Ihre eigene Kunst wirkt ebenfalls wie ein schlechtes Gewissen. So stammt von Ihnen der Ausspruch: "Kunst soll dort stattfinden, wo man sie nicht erwartet, wo sie wehtut."

Das ist nur eine Möglichkeit. Wenn es das Thema erfordert, sollte eine Begegnung mit ihm auch schmerzhaft ist. Wenn der Inhalt hart ist und die Menschen dies nicht spüren, dann habe ich versagt. Aber das trifft nicht für alle meine Arbeiten zu. Manche sind lustig, wenn auch die wenigsten.

Sie gehören in Deutschland zu den gefragtesten Künstlern für Mahnmale. Woran liegt das?

Vermutlich daran, dass ich mich überwiegend mit den Themen Tod und Krieg beschäftige. Vermutlich aber auch an meinem "dark garden" in Nordhorn, einem regelrechten Antikriegsdenkmal, das weniger den Soldaten als der politischen Opposition und natürlich den jüdischen Familien gewidmet ist.

Haben Sie je an eine Teilnahme am Holocaust-Mahnmal in Berlin gedacht?

Nein, weil ich zum gleichen Zeitpunkt in Nordhorn arbeitete. Das wäre nicht gegangen. Außerdem war ich nicht eingeladen.

In Berlin hat es mehrere Wettbewerbe gegeben. Warum ist es heute so schwer, die richtige Form für eine solche Aufgabe zu finden?

Das ist eigentlich nicht überraschend. Es ist immer schwierig, die adäquate Form zu finden für den Tod oder für den Verlust von jemandem, den man liebt. Maya Lin ist es mit dem "Vietnam Memorial" in Washington gelungen, diesen Verlust darzustellen. Das hätte ich mir auch für Berlin gut vorstellen können: nicht die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit als Folge des Massenmordes an den Juden. Sie sind für immer fort. Es wäre gut gewesen, so etwas auch hier zu haben: etwas, was das Nichts zeigt.

Und das auf einer riesigen Fläche.

Die Tatsache, dass dem so viel Raum gewidmet wird, ist richtig. Es ist angemessen, dass gerade dort, im Herzen der Stadt, nicht weitere glamouröse Gebäude entstehen. Die jetzige Auseinandersetzung um die Eigentumsverhältnisse sagt übrigens viel über die Schwierigkeit aus, diesen Raum dafür frei zu lassen.

Frau Holzer[was kommt], wenn Sie an Berlin denken[was kommt]

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