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Kultur: "Was braucht der Mensch?": Besinnt Euch auf das Notwendige! - Erhard Epplers Plädoyer für eine Politik im Dienst der Grundbedürfnisse

Wer Visionen hat, solle zum Augenarzt gehen, empfahl einst Helmut Schmidt und meinte damit auch seinen damaligen Entwicklungshilfeminister und späteren Vorsitzenden der sozialdemokratischen Grundwertekommission Erhard Eppler. Und der legt jetzt - nach dem Motto: Genug ist oft weniger - ein lesenswertes Buch vor, in dem er die Vision einer Politik skizziert, die sich an Grundbedürfnissen orientiert.

Wer Visionen hat, solle zum Augenarzt gehen, empfahl einst Helmut Schmidt und meinte damit auch seinen damaligen Entwicklungshilfeminister und späteren Vorsitzenden der sozialdemokratischen Grundwertekommission Erhard Eppler. Und der legt jetzt - nach dem Motto: Genug ist oft weniger - ein lesenswertes Buch vor, in dem er die Vision einer Politik skizziert, die sich an Grundbedürfnissen orientiert.

Ein Tier wisse, wann seine Bedürfnisse befriedigt sind. Man könne einer Ente beliebig viele Nacktschnecken vorsetzen, sie fresse dennoch nicht mehr als sie vertrage. Mit dieser Naturbeobachtung hält Eppler der Wohlstandsgesellschaft mit ihren überbordenden materiellen Wünschen einen Spiegel vor.

Zu dem, was Menschen dagegen unbedingt brauchen zählt Eppler Wasser, Luft, Essen, ein Dach über dem Kopf und etwas zum Anziehen. Aber auch Ermutigung, Anerkennung und Zuwendung. Der Mensch sei zwar ein Gemeinschaftswesen, er wolle jedoch zugleich als unverwechselbare Person wahrgenommen werden. Es gebe deshalb ein Grundbedürfnis nach Individualität.

Obwohl sie eine Überfülle an Waren und Informationen zur Verfügung hätten, litten viele Menschen doch Mangel, klagt Eppler. Es fehle ihnen an Ruhe und kreativer Muße. Er warnt davor, dass wir ein Maß an Beschleunigung erreichen, das uns überfordert. Denn im Unterschied zum Tier, das seinen Instinkten unbewusst und ohne Plan folgt, sei der Mensch ein Wesen der Zeit. Deshalb brauche er Geschichte. Wer nicht weiß, woher er kommt und von seiner Geschichte abgeschnitten ist, könne krank werden. Im Fluss der Zeit habe der Mensch zudem ein Grundbedürfnis auf Zukunft, die in der Gegenwart hoffnungsvoll und zielstrebig gestaltet wird.

Von der Politik verlangt Eppler, dass sie eben diese menschlichen Grundbedürfnissen ernst nimmt. Sie solle dafür sorgen, dass die Natur auch Morgen noch dem Menschen geben kann, was er braucht. Dafür müsse sie rechtliche, soziale und ökologische Rahmen setzen. Er macht deutlich, dass manche Grundbedürfnisse immer und überall, unabhängig von Kultur und Epoche gelten, während sich andere am jeweiligen Klima, ihrer Landschaft und ihrer Zeit orientieren. Deshalb flankiert er sein überzeugendes Plädoyer für Besinnung auf das Notwendige mit Verweisen auf für europäische Augen vermeintlich Exotisches.

Wo Eppler einen kanadischen Cree-Indianer und den Chinesen Chungliang Al Huang zu Wort kommen lässt, wird sein Buch eindrucksvoll. Für den Indianer ist das westliche Streben nach Erwerb und Anhäufung von Geld und Gütern fremdartig und nicht nachvollziehbar. Im Wortschatz seines Stammes gibt es für Reichtum keine Vokabel. Als reich gilt ein Jäger, der mit den dafür erforderlichen Fertigkeiten in Wald und Feld ausreichend für seine Familie sorgen kann.

Obwohl er einer mächtigen Mandarin-Familie der Qing-Dynastie entstammt, ist materieller Reichtum auch für Chungliang Al Huang kein Lebensziel. Sein Weisheitskonzept ruht wesentlich im Begriff des Nuei. Dieser umfasst die Fähigkeit, in sich hinein zu blicken und seinen inneren Kern zu finden und zu bewahren. Krise heißt auf chinesisch Wei Ji. Es impliziert beides, Gefahr und Gelegenheit zum Wachstum.

So anziehend Epplers Anregungen für mehr Bescheidenheit oft sind, sie implizieren doch ein hohes Maß an regulierender Staatstätigkeit; und wo er neoliberales Funktionieren am Markt als Ideologie geißelt, die Vielfalt und Grundbedürfnisse des Menschen reduzierte, verkürzt sich ein andernorts humanistischer Geist zu archaisch intellektuellem Sandalenträgertum.

Dem Visionär Eppler stehen hier die Modernisierer in der SPD gegenüber. Wie Eppler zählt auch Wolfgang Clement, heute einer der Vorsitzenden der Grundwertekommission, soziale Gerechtigkeit zum unverzichtbaren sozialdemokratischen Grundkonsens. Gerechtigkeit, so Clement Ende April zur Eröffnung der SPD-Debatte über ein neues Grundsatzprogramm, habe man früher vor allem als Verteilungsgleichheit empfunden. Wer jedoch nur diese Seite sehe, greife in Zeiten globaler Märkte zu kurz. Die Sphäre der Produktion und damit die Erwirtschaftung von Wohlstand müsse im Interesse von Leistung und Gerechtigkeit vor der Verteilung stehen.

Dieses Argument lehnt sich eng an das Schröder-Blair-Papier. Dort heißt es, dass die Verantwortung des Einzelnen in Familie und Gesellschaft nicht an den Staat delegiert werden dürfe. Die Sozialdemokraten sollten aufhören, die Stärke von Märkten zu unterschätzen. Politik dürfe ihre Steuerungsfunktion nicht behindern. Kann es da überraschen, dass Wolfgang Clement eine Zeit lang mit dem Gedanken spielte, einem Koalitionspartner den Rücken zu kehren, der Sandale und Strickstrumpf noch nicht flächendeckend abgelegt hat?

Christine von Eichel

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