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Kultur: Was ist der Preis der Freiheit?

Gesammelte Irrtümer, erste Einsichten: Amerika hat den Irak besiegt – und sich selbst und manche Kritiker Lügen gestraft

Der Krieg, dieser Krieg, der alle bewegt, geht wohl zu Ende. Und weil ihn die einen für den Beginn einer neuen Weltkriegsordnung, andere aber für den Anfang einer neuen Weltfriedensordnung halten, fällt jetzt nicht nur eine arabische Diktatur. Es fallen wieder – wie Ende 1989, wie im September 2001 – ein paar alte Gewissheiten.

Saddams Sturz in Bagdad ist zunächst ein Symbol der Hoffnung: auf mehr Freiheit und, wenn schon nicht gleich auf eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster, so doch auf mehr rechtstaatliche Sicherheit, auf mehr außenpolitische Berechenbarkeit eines Schlüsselstaats in einer politisch, religiös-kulturell und ökonomisch brisanten Region. Was die Reporter dabei aus Bagdad oder Basra berichten und was uns die jüngsten Fernsehbilder zeigen, ist ein Wechselbad aus punktuellem Jubel, allgemeiner Erleichterung und dann wieder Schmerz und Trauer über die Opfer, oder nur ratlose Skepsis. Und diese aus blutiger Erfahrung gemischten Gefühle entsprechen auch überraschend genau den (aus komfortablem Abstand gewonnenen) Reflexionen der europäischen oder amerikanischen Betrachter.

Die US-Regierung hat im Irak keinen Verteidigungskrieg geführt. Dass eine ferne, elende Wüstendiktatur die Vereinigten Staaten von Amerika unmittelbar bedrohe, wie der US-Präsident es seinen Landsleuten in immer absurderen Reden weismachen wollte, war ein Phantasma. Also hat dieser Angriffskrieg nach überwiegender Weltmeinung das Völkerrecht gebrochen. Doch was genuinen Pazifisten ebenso wie Deutschlands realpolitischem Außenminister Joschka Fischer so schwer fällt einzuräumen, das gilt nun auch: Ohne diesen Rechtsbruch und diesen Krieg wäre der Killer und Folterer Saddam Hussein nie gestürzt worden. Saddam besaß vermutlich keine Massenvernichtungswaffen (mehr) und hatte nach allen bekannt gewordenen Geheimdienstinformationen auch keine Verbindung zum Terrornetz Bin Ladens. Dennoch verkörperte er, mit seinem Hass gegen Amerika und Israel, nicht nur eine im Nahen Osten symbolkräftige tyrannische Gewalt; Saddam finanzierte, belohnte und belobigte zudem ganz offen palästinensische Selbstmordattentäter. Dieses Argument allerdings wurde von George W. Bush, der anders als Bill Clinton sich um die dringliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts sehr wenig gekümmert hat, bei allen Terror-Anschuldigungen gegenüber Saddam erstaunlicherweise nicht betont.

Für eifernde Rechthaber, ob Kriegsbefürworter oder Kriegsgegner, bietet das Geschehen im Irak also keine Bestätigung. Richtig und falsch, Recht und Unrecht mischen sich derart, dass dies auch den gern zitierten Satz des Kulturphilosophen Theodor W. Adorno, es gebe „kein richtiges Leben im falschen“ eindrucksvoll widerlegt. Falsch ist höchstens die Apodiktik, welche die Welt gleichsam manichäisch in Gut und Böse teilt. Die politische Realität ähnelt – auch wenn das manchen Künstlern und Intellektuellen wider den Strich geht – insoweit einem komplexen Kunstwerk. Weil sie sich ohne übergreifende Heils- oder Unheilsgewissheit als ein Gemisch aus Widersprüchlichem, Unvereinbarem und oft genug Unlösbarem darstellt.

Was zum Beispiel ist der moralisch tolerable Preis der Freiheit? Deutschlands und Westeuropas Befreiung vom Hitler-Regime wurde, das haben ja neuere Bücher und Debatten drastisch vor Augen geführt, auch mit der gezielten Massentötung von Zivilisten im Bombenkrieg, also mit Kriegsverbrechen erreicht. Jetzt haben die Amerikaner und Briten wohl alles kriegstechnisch Mögliche versucht, um Menschenleben zu schonen. Und doch kann man sich angesichts der Berichte und Bilder von diesem Krieg nicht in die kaltherzige Begriffswelt der „Kollateralschäden“ flüchten.

Da bleibt, neben so vielem anderen, das zu Beginn der Woche verbreitete Bild des 12-jährigen verbrannten Jungen in einer Bagdader Klinik, dessen Arme nur noch Stummel sind und der aus seinem verzweifelt wachen, untröstlich traurigen Gesicht zu fragen scheint: Warum habt ihr mir mein Leben geraubt? Oder im US-Fernsehen der Vater eines der früh in diesem Krieg gefallenen GI’s, ein Farbiger Ende 40, der das Foto seines Sohnes in die Kamera hält und immer wieder nur diesen Satz sagt: „Mr. Bush, I want you to remember: This was my only son!“

In diesem Moment möchte man auch nichts von den mit „patriotischen“ Tönen verkündeten Meinungsumfragen mehr hören, die dem US-Präsidenten sagen, dass rund 70 Prozent der Amerikaner den Irak-Krieg befürworteten. Anders sähe das wohl aus, wenn es noch die allgemeine Wehrpflicht gäbe und Millionen US-Eltern aus allen Schichten – wie zu Zeiten des Vietnamkrieges – um das Leben ihrer Kinder fürchten müssten. Und man muss sich dazu auch den Informationsstand der nicht die „New York Times“ lesenden US-Bevölkerung vergegenwärtigen – und in Bob Woodwards glänzend informiertem (und gegenüber dieser US-Regierung höchst respektvollen) Bestseller „Bush at War. Amerika im Krieg“ nachlesen, wie die Sache mit Saddam und dem Irak und der Medienöffentlichkeit schon am 15. September 2001 in Camp David beraten wurde; wie Donald Rumsfeld dem noch unentschlossenen Präsidenten zu einer „strafferen Öffentlichkeitsarbeit“ („eine politische Kampagne“) riet. Das haben amerikanische Beobachter dann ironisch „Brainwashington“ genannt.

Trotzdem bietet gerade dieser Krieg überhaupt keinen Grund zur wohlfeilen Medienschelte. Es war und ist ein neuer Krieg – auch in dieser Hinsicht. Was wurde seit dem ersten irakisch-amerikanischen Konflikt 1991 nicht alles geschrieben über den modernen Krieg als Computergame, als virtualisiertes Medienspektakel, klinisch, künstlich, der tödlichen Wahrheit entrückt. Fast schon populär wurde dazu auch der schön-schreckliche, auf Aischylos, Voltaire und Nietzsche gestützte Satz, das erste Opfer im Krieg sei immer die Wahrheit.

All das traf auf den Irak-Krieg 2003, soweit wir jetzt wissen, nicht zu. Wohl nie zuvor wurde die Weltöffentlichkeit so erschreckend schnell und nah über einen Krieg informiert. Am Anfang war das auch ziemlich obszön: Immer pünktlich zu „Heute“ und „Tagesschau“ begannen die Bombenangriffe auf Bagdad – und wir waren, wenn es blitzte und donnerte oder auch schon mal ein vom Tele erfasstes Gebäude explodierte, tatsächlich „live“ dabei. Als sei der Krieg in Direktübertragung eine neue Unterhaltung zum Abendessen.

Natürlich sah man die reale Zerstörung, die Toten dann erst im Morgenprogramm. Doch trotz „embedded journalism“, was behüteter klang als es war, trotz eingeschränkter Recherchemöglichkeit in den umkämpften Städten wurden Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser schneller und prägnanter denn je unterrichtet. Sogar die immer irrsinnigeren Auftritte des irakischen „Informations“-Ministers verrieten unfreiwillig etwas über die Paranoia einer totalitären Diktatur. Gewiss kann es noch kein umfassendes, tiefer dringendes Bild dieses Krieges geben, und auch keine exakten, unbezweifelbaren Opferzahlen. Aber die im ganzen seriös wirkende Kommunikation der amerikanischen und britischen Streitkräfte hat eine bei allen Sicherheitsrisiken doch erstaunliche Transparenz geschaffen. Eine Offenheit, die einige Reporter und ihre Helfer bis kurz vor der Einnahme Bagdads mit dem Leben bezahlt haben.

Ungeachtet der Nachkriegszeit im Irak und der nun täglich erörterten Chancen und Risiken für den Nahen und Mittleren Osten: Was bleibt von diesem Krieg? Es bleibt zunächst, wie schon nach dem 11. September, ein neues Gefühl der globalen Vernetzung von Konflikten, der mittelbaren oder gar unmittelbaren Betroffenheit, schon durch die weltwirtschaftlichen Einflüsse. Damit verbunden ist allerdings auch ein eher lebenskulturelles Moment. Denn die Attacken auf Washington und vor allem auf das New Yorker World Trade Center waren keine nur klassisch „ausländischen“ und „außenpolitischen“ Ereignisse. Sondern trafen zumindest für Europäer auch in den eigenen zivilisatorisch-kulturellen Binnenraum. Wir sind alle auch ein Stück Amerikaner, und selbst der Verteidigungsminister mit dem schönen deutschen Namen Rumsfeld gehört noch etwas zur alten Welt seiner Vorfahren, mehr als sein neuweltlicher Dickschädel meint. Das macht allerdings auch die Schwierigkeit des Alten Europa mit George Bushs Amerika aus. Wenn es zwischen einer von eigenen Sicherheitsphobien und imperialen Anwandlungen getriebenen Supermacht als religiöser Oberschwester und ihren weniger vitalen, dafür säkulareren, gewaltscheueren, stilempfindlicheren Geschwistern in fundamentalen Wertfragen – vom Völkerrecht bis zu Menschen- und Bürgerrechten – eine zu starke Kluft gibt, ist mit der unterschiedlichen Politik auch die gemeinsame Kultur in Frage gestellt. Um den wechselseitigen Isolationismus zu überwinden, braucht es also bald eine gemeinsame neue Anstrengung. Einen (selbst)kritischen Dialog zwischen Amerika und Europa. Wer hier nicht eine Basis findet, der braucht über eine neuerliche Stärkung der Vereinten Nationen mit ihren weit heterogeneren Vertretern gar nicht erst nachzudenken.

Es bleibt angesichts des Krieges und weiterer Kriegsdrohungen noch ein moralischer Aspekt. Natürlich hätte man anstelle des schier wahnsinnigen Aufwands zum Sturz der Wüstendiktatur auch immense humanitäre Projekte in einer Welt von Hunger und Krankheiten fördern können. Um damit vielleicht auch Biotope des Terrors auszutrocknen. Doch versickern solche zivilen Anstrengungen, so lange sich nicht in zahlreichen Ländern Afrikas und Asiens parallel auch die politischen Strukturen ändern. Und genau hier gerät eine globale Friedenspolitik gegenüber tyrannischen, die eigene Bevölkerung missbrauchenden und (nur zu oft mit westlichen Partnern) ausbeutenden Regierungen an ihre Grenze. Dann stellt sie sich erneut: die politisch-militärische Interventionsfrage.

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