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Kultur: Was machen wir heute?: Angehörige verpetzen

Lange keine richtig intime DDR-Verstrickungs-Denunziation mehr gelesen, oder? Hier ist eine: Meine Freundin war 1988 im Westen und ist wieder zurückgekehrt in die Diktatur.

Von David Ensikat

Lange keine richtig intime DDR-Verstrickungs-Denunziation mehr gelesen, oder? Hier ist eine: Meine Freundin war 1988 im Westen und ist wieder zurückgekehrt in die Diktatur. Freiwillig. Dabei kannte sie mich da noch gar nicht. Sie wollte einfach nicht im freien Westen bleiben.

Wenn ich erkläre, wie sie dort überhaupt hinkam, sind wir bei der nächsten Verstrickung: Sie hatte einen Platz in einer "Jugendtourist"-Reisegruppe, die für eine Woche ins NSW durfte - ins "Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet". So ein Privileg genossen nur die Zuverlässigsten. Sie galt als dazugehörig, da sie keine Verwandten im Westen hatte, aber eine Mutter in der Partei.

Die Reise ging nach Saarbrücken. Ausgerechnet Saarbrücken. Aber man war ja dankbar, als Ostler unterhalb des Rentenalters überhaupt mal was vom Westen zu sehen. Die Mitreisenden waren zum größten Teil noch viel zuverlässiger als meine Freundin: Sie waren selbst SED-Genossen. Solche, die zum Beispiel für die FDJ-Kreisleitung arbeiteten. Und dieser illustre Kreis besichtigte in geschlossener Formation zum Beispiel die dortige Edelklofabrik von "Villeroy & Boch" und sah sich ein Werk an, in dem riesige Werbeplakate gedruckt wurden. Mit dieser Auswahl wollten die Reiseorganisatoren den jungen Westreisenden wohl die Verderbtheit der dekadenten BRD-Gesellschaft vor Augen führen.

Aber es sollte der Gruppe auch jene Westrealität, die uns Ostlern so oft im DDR-Fernsehen dargestellt wurde, ganz direkt vermittelt werden. So kam es einmal dazu - meine Freundin erinnert sich noch gut daran - dass sie mit dem Bus durch die Stadt fuhren und bei einem Bettler, der auf dem Gehweg saß, Halt machten. Die pflichtbewussten Touristen stiegen aus und fotografierten den Armen. Ein Beweis, dass die DDR-Propaganda nicht log. (Dass meine Freundin hier nicht fotografierte, wurde ihr bei späteren Auswertungen der Reise tatsächlich zum Vorwurf gemacht. Heute wollen wir dies gnädig als mildernden Umstand ihrer Reise-Verstrickung anerkennen.)

Neulich musste ich mich fotografieren lassen. Ich hatte gerade in der U-Bahn die Zeitung gelesen, grübelte noch über das amerikanische Wahlsystem und fragte mich, ob das denn demokratisch genug sei, da lief ich an so einem Passfoto-Automaten vorbei. Ich setzte mich hinein und las bei den Instruktionen dies: "Bitte Geld einwerfen, um Ihre Wahl zu treffen".

Mensch, dachte ich mir, jetzt noch mal alles zurückschrauben und Jugendtourist-Reiseorganisator sein. Ich würde die wackeren Westreiser allesamt zu so einem Automaten schicken und ihnen hier die Lektion "bürgerliche Demokratie" verpassen. Erst Geld einwerfen - dann Wahl treffen. Mann, hätte die das umgehauen, rein ideologisch. So was von demaskierend der Spruch. Und schwarz auf weiß. Hätte ich bisher Reisen nach Saarbrücken organisiert, wäre ich nun bestimmt für New York eingesetzt worden. Oh, was hätte ich mich verstricken können. Das Zeug dazu habe ich bestimmt.

Passfoto-Automaten gibt es hier und da.

Was machen wir heute? Tag für Tag stürzen sich unsere Kolumnisten in den Dschungel dieser großen Stadt und berichten auf dieser Seite von ihren Erfahrungen

Die Mutter montags, ein West-Berliner dienstags, ein Ost-Berliner am Mittwoch, der Neu-Berliner schreibt am Donnerstag, der Partygänger jeden Freitag - und der Samstag gehört dem Vater. Immer wieder sonntags

lesen Sie: Renée Zucker.

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