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Was machen wir heute?: Ansehnlich bleiben

Berlin ist eine Modestadt, gewiss doch, schon seit dem 19. Jahrhundert.

Berlin ist eine Modestadt, gewiss doch, schon seit dem 19. Jahrhundert. Nur den Berlinerinnen sieht man es einfach nicht an, auch das hat Tradition. Nun ja, in Berlin lieben es die einen leger, bequem, unkonventionell, die anderen sachlich, nüchtern, solide. Jedenfalls legt man wenig Wert auf Feinheiten, und Zugereiste nehmen bekanntlich die Farbe der Stadt schnell an. Hose, Jacke, T-Shirt, Halskettchen, bequeme Treter an den Füßen: Fertig ist die Einheitsfrau. Insofern passt unsere Kanzlerin mit den ewigen drei großen, hellen Knöpfen um die Taille prima zu unserem Lebensgefühl.

Schon die Wortwahl hat es in sich. Die emanzipierte Frau trägt keine Jacke mehr, sondern ein Jackett, das früher dem Mann vorbehalten war. Sie kauft Klamotten, und soll es ausnahmsweise etwas Besonderes sein, ist mit leicht spöttischem Unterton von Designerklamotten die Rede. Was heißt Stilgefühl, Kleidsamkeit, Individualität? Hauptsache praktisch.

Dabei hat Berlin so viel Originelles zu bieten, zum Beispiel in den kleineren Boutiquen in den Hackeschen Höfen oder in Prenzlauer Berg oder in den Seitenstraßen des Ku’damms. Neulich haben sie es genossen, in solchen Läden zu stöbern, die Rentnerin und ihre beiden Schwestern. Sie waren ganz bezaubert von den fantasievollen Angeboten. Eine reizende junge Ladeninhaberin erzählte, sie entwerfe alles selbst. Die Verkäuferin in einem anderen Geschäft, die Kundschaft komme allerdings größtenteils von auswärts. Eine ältere Dame probierte vergnügt dies und jenes an, ganz legere Sachen, aber irgendwie todschick. Ihr betagter Begleiter hatte auch seinen Spaß daran. Na schön, solche Geschäfte sind nicht gerade Billigläden, aber mit etwas Geschick kommt man schließlich mit wenig aus.

Eine Bekannte, der die Rentnerin von dem lustvollen Bummel vorschwärmte, meinte bloß: „Wozu das denn? Heutzutage kommt es doch auf die Anzieherei gar nicht mehr an. Und überhaupt: In unserem Alter?“ - „Eben drum, gerade in unserem Alter“, erwiderte die Rentnerin, „unsereiner hat es nötig, ansehnlich zu bleiben.“

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