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Was machen wir heute?: Arbeiter betrachten

Wie ein Ost-Berliner die Stadt erleben kann

Ach, hätte ich doch in der Schule an der AG „Junge Fotografen“ teilgenommen, statt beim „Klub Technik-Naturwissenschaften“ an Leiterplatten rumzulöten! Die DDR muss ein Paradies für Fotografen gewesen sein, seit Jahren erscheinen immer wieder spektakuläre Fotobände, deren Reichtum an unvergesslichen Aufnahmen den Eindruck erweckt, man hätte in diesem Land nur mit der Kamera draufhalten müssen, um ein Stück Alltags-Slapstick, ein rührendes Kleinstadtstillleben oder eine heute archaisch wirkende Szene aus der Arbeitswelt festzuhalten. Das Land ist vergangen, deshalb wirken die Bilder immer märchenhafter. Auch die Typen gibt es nicht mehr, Menschen mit von ihren Berufen gezeichneten Gesichtern, die eine große Würde ausstrahlen, jedenfalls auf den Fotografien.

Kohlenträger, Bauern, Holzfäller, Handwerker, wie gut, dass sich Fotografen, wie der im letzten Jahr so früh verstorbene Roger Melis, für solche scheinbar alltäglichen Motive interessiert haben, als hätten sie geahnt, dass deren Zeit schon abgelaufen war. Bei Roger Melis ist dieser unaufgeregte Blick besonders bemerkenswert, weil es neben all diesen Alltagsmenschen kaum einen DDR-Intellektuellen gab, den er nicht porträtiert hätte. Aber in der DDR hatten manche Künstler anscheinend eine ganz natürliche Demut vor der arbeitenden Bevölkerung mit ihren Mühen. Viele von ihnen kamen ja selbst von ganz unten. Und wie schwer gearbeitet wurde, zeigen diese Bilder, auch wenn manchmal behauptet wird, die Mehrheit habe im Osten nur rumgesessen, weil man ja nicht entlassen werden konnte. Die Gesichter der Dachdecker, Schornsteinfeger, Gießer, der Halbstarken vom Rummelplatz zeigen, dass die DDR an ihrer Basis kein zahmes Land war, sondern dass hier Milieus mit einer viel älteren Tradition weiterexistierten, mit denen die Funktionäre nie ganz zurechtkamen. So kompromisslos wie in der Fotografie konnte das vielleicht in keiner Kunstform dargestellt werden.

– Roger Melis – Chronist und Flaneur. C/O Berlin, Postfuhramt, Oranienburger Straße 35/36

Jochen Schmidt

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