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Was machen wir heute?: Das Mittelalter suchen

Wir sitzen in der „Fleischerei“, essen Schweinebraten und unterhalten uns über Inspiration. Die Rechtsanwältin meint, Berlin müsse für mich doch weit mehr Inspiration bereithalten als das Kuhdorf, aus dem ich komme, oder die Kleinstadt, in der ich versucht habe, mein Studentenleben bis zur Frührente auszudehnen.

Wir sitzen in der „Fleischerei“, essen Schweinebraten und unterhalten uns über Inspiration. Die Rechtsanwältin meint, Berlin müsse für mich doch weit mehr Inspiration bereithalten als das Kuhdorf, aus dem ich komme, oder die Kleinstadt, in der ich versucht habe, mein Studentenleben bis zur Frührente auszudehnen. Doch ich muss verneinen. Die Rechtsanwältin, die seit vielen Jahren hier wohnt, ist verblüfft, fast beleidigt, und ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich versuche es mit einem rheinisch-diplomatischen Einstieg: Natürlich habe Berlin sehr viel zu bieten. Interessante Menschen wie sie zum Beispiel. Dazu Kunst, überall. Eine geheime Welt der Hinterhöfe, Keller und Dachböden. Auch atme Geschichte aus jedem Ziegel. Man sehe an manchen Tagen den Biberkopf deutlich vor sich, wie er auf dem Alexanderplatz mit Zeitungen wedele und dröhnend um Kundschaft buhle. Die Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Sozialismus, Mauerbau und Mauerfall – all das stünde einem vor Augen. Die Rechtsanwältin schaut skeptisch. Sie wartet auf das „Aber“ in meiner Ausführung, aber wie soll ich es ausdrücken? Dass Inspiration nur wenige Eindrücke und viel unbeschriebenen Raum braucht? Dass mich die große Geschichte kaltlässt, weil mein Kopf dafür zu klein ist? Dass die Seele vom Pflastertreten krumm wird, wie es Kästner in einem Gedicht formulierte?

„Mir fehlt in Berlin das Mittelalter“, sage ich. Seltsamerweise kann die Rechtsanwältin meinen Gedankenhopser besser nachvollziehen als ich selbst. „Du willst eine Stadtmauer, eine historische Altstadt und mittendrin eine gotische Kirche. Schön überschaubar und zugleich eine wunderbare Projektionsfläche für alberne Träumereien. Der Moderne entkommen.“ – „Irgendwie so“, nuschele ich kleinlaut. – „Na“, sagt sie im kessen Tonfall der fast schon waschechten Berlinerin. „Dann geh doch ins Nikolaiviertel.“ Es ist schrecklich: In Berlin gibt es immer alles. Man kann nichts mehr hinzuerfinden. Anselm Neft

Berlins Mittelalter im Internet:

www.nikolaiviertel-berlin.de

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