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Kultur: Was machen wir heute?: Den Opfern des Fortschritts gedenken

Herr Orkin war ein dem Fortschritt zugewandter Wurstfabrikant in Hildesheim. Er lebte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts und musste sehr tapfer sein.

Von David Ensikat

Herr Orkin war ein dem Fortschritt zugewandter Wurstfabrikant in Hildesheim. Er lebte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts und musste sehr tapfer sein. Für eine bessere, eine aufgeklärtere Welt durchlitt er wild klingelnde Tage und Nächte.

Aber fangen wir mit der Anweisung an. "ANWEISUNG: Um beispielsweise No. 2451 anzurufen: Hörer vom Haken nehmen, Finger in Öffnung 2 der Scheibe stecken, diese drehen, bis Finger am Anschlag anstößt. Scheibe loslassen, bis sie stillsteht. Dasselbe wiederholen bei No. 4, 5 u. 1. Nähere Anweisung im Teilnehmerverzeichnis."

So stand es auf den Wählscheiben der ersten deutschen Wählscheibentelefone. Die gab es in Hildesheim, denn Hildesheim hatte damals, so um 1908, eine Postdirektion, die dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt gegenüber mindestens so aufgeschlossen war wie der Wurstfabrikant A. Orkin. Das erste deutsche "Selbstwahlamt" stand in Hildesheim, die Hildesheimer waren also die ersten, die am Telefon selbst wählen mussten. Alle anderen Deutschen kurbelten noch und verließen sich aufs freundliche Frollein vom Amt ("Hier Amt. Was beliebt?").

Natürlich mussten die Hildesheimer das Selbstwählen auch erst lernen, also folgten sie den Anweisungen auf der Wählscheibe. Sie wählten brav die 2, die 4, die 5 und die 1.

Nun war zu Kaisers Zeiten ja alles besser. Drum wundern wir uns, dass es offensichtlich zwischen den Wählscheibentelefonanweisungsverfassern und den Wählscheibentelefonnummernvergebern keine Zwiesprache gegeben hatte. Erstere hätten letztere selbstverständlich fragen müssen: "Hört mal, wir brauchen eine Beispielnummer für die Wählscheibentelefonanweisung. Welche können wir denn nehmen?" Haben sie aber nicht. Sie dachten sich: Die 2451 macht einen repräsentativen Eindruck. Nehmen wir die mal.

Den intelligenten, pointensicheren Lesern dieser Zeitung, also Ihnen, dürfte klar sein, worauf das Ganze hinauslief: Auf die Leiden des Wurstfabrikanten A. Orkin, Telefonanschluss Hildesheim 2451. Er ist als das erste Opfer multiplen Telefonterrors in die Geschichte der fernmündlichen Kommunikation eingegangen. Über Orkins schlaflose Nächte, über die Worte, mit denen er sich am Telefon meldete (vielleicht sagte er auch nur: "Schatz, gehst du mal ran"), über die unflätigen Beschimpfungen, denen glückliche Hildesheimer Erstwähler ausgesetzt waren, über all das können wir nur mutmaßen. Die Überlieferung schweigt sich hier aus.

Was bleibt, ist der Respekt gegenüber dem Wurstfabrikanten Orkin, vermutlich auch gegenüber seinem Schatz. Die Hildesheimer haben - als erste Deutsche - auf ihre Kosten das Wählen erlernt. Wir drücken heute nur noch Knöpfe, ganz selbstverständlich. Ach.

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