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Kultur: Was machen wir heute?: Die Ehre wahren

Nie habe ich verstanden, warum sich viele Leute über die Wilmersdorfer Witwen lustig machen. Mein Lebensziel ist es nämlich, als eine solche zu enden.

Nie habe ich verstanden, warum sich viele Leute über die Wilmersdorfer Witwen lustig machen. Mein Lebensziel ist es nämlich, als eine solche zu enden. Da der weibliche Teil meiner Familie extrem zäh und langlebig ist, rechne ich mit einigen lustigen Witwenjahren, in denen ich alles nachzuholen hoffe, wozu ich als berufstätige Wilmersdorfer Mutter nicht komme: bis elf Uhr schlafen, bunte Hüte kaufen, in Ausstellungen, ins Kino, ins Theater gehen, stundenlang im Café sitzen und Zeitung lesen, im Park mit anderen Witwen über die Witwer klatschen und lange Telefongespräche mit meinem bis dahin prächtig ausgewachsenen, womöglich frühverrenteten Sohn führen. Gibt es etwas Erstrebenswerteres als eine Wilmersdorfer Witwe zu sein?

Rhetorische Frage: natürlich nicht. Als zukünftige Wilmersdorfer Witwe sage ich nun in aller Deutlichkeit: Wenn die NPD über meinen Kudamm marschiert, und sei es nur ein winziges Stück, dann finde ich das nicht komisch. Eine NPD-Demo in Lichtenberg kratzt uns Wilmersdorfer nicht so; aber beim Kudamm hört der Spaß auf. Es war für den Kindsvater, das Kind und mich daher eine Frage der Ehre, am Tag der deutschen Einheit gegen den NPD-Marsch zu protestieren. Direkt ins Gewimmel, um die Neo-Nazis persönlich auszubuhen und womöglich einen autonomen Stein auf den Kopf zu kriegen, trauten wir uns mit Kind nicht. Also auf durch den Regen zum Tauentzien, zur Gegendemo.

Das Kind ist Volksaufläufe ja gewöhnt. Schon als wir gemeinsam im Wochenbett lagen, wummerten die Bässe der Love Parade bis ins Krankenhaus, und seitdem hat der Kleine, zumindest am Rande, den Karneval der Kulturen, den Christopher Street Day, die Kudamm-Modenschau und zuletzt den Berlin-Marathon miterlebt. Als Berliner Kleinkind nimmt man eben ständig ein Bad in der Menge. Vor allem der Marathon direkt vor unserer Haustür hat das Kind schwer beeindruckt; seitdem rennt es mit verkniffenem Gesicht durch die Wohnung, schreit "Timmy Schogger" und beklatscht dann, am Ende des Flurs angekommen, unter lauten "Gravo!"-Rufen seine eigene Leistung.

Das Häuflein aufrechter und nasser Antifaschisten, unter die wir uns am Tauentzien mischten, konnte da nicht mithalten. Einzig die grünen Luftballons mit der Aufschrift "Nein zu Neonazis" und zwei Polizisten, die hoch zu Ross unterwegs waren, fesselten das Kind zeitweise; den Satz "Timmy Antifaschist" wollte es partout nicht lernen. Wir protestierten eine halbe Stunde lang und gingen dann unserer Wege; allzu heroisch ist man als Wilmersdorfer Kleinfamilie nicht. Den grünen Ballon ließ das Kind irgendwann fliegen. "Tschüss Ballon - bye bye, ade" rief es und winkte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. So verbreitete sich die Wilmersdorfer Botschaft über ganz Berlin. Möge die Welt sie hören.

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