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Was machen wir heute?: Die Patina abkratzen

Wie eine West-Berlinerin die Stadt erleben kann

In jeder Liebe gibt es schlechte Zeiten, bei mir und Berlin kehren diese periodisch wieder und dauern jedes Jahr von November bis April. In dieser Zeit brauchen wir viel Abstand voneinander, bestenfalls 3711 Kilometer, etwa so weit ist es von der Dattelpalme, unter der ich heute liege, bis zur Pfütze vor meiner Berliner Haustür.

Als Beweis meiner Treue habe ich ein Buch im Gepäck, „Berlin Hüttenweg“, mit 14 Geschichten, die in Berlin spielen, geschrieben von Schriftstellern, die als Samuel-Fischer-Gastprofessoren an der FU Berlin lehrten. So etwa Yann Martel, Autor des Romans „Schiffbruch mit Tiger“, er schildert seine Ankunft so: „,Und wo ist Berlin?’, fragte ich mich. Diese Ansammlung von Bäumen, Seen und Villen konnte doch nicht die Hauptstadt sein?“ Ein anderer schreibt, beim Namen Hüttenweg habe er sich einen Sandweg über einen weiten Campus vorgestellt, tatsächlich führte ihn der Weg zu seiner Vorlesung täglich an prächtigen Häusern mit Zinnen und Erkern, versunken in Parklandschaften, vorbei.

Mich unter meiner Dattelpalme erinnern die Geschichten an die Zeit, als meine Liebe zu Berlin noch keine Patina hatte. Damals lebte ich als Kind im West-Berliner Dorf, einer Welt, die für mich längst nicht mehr existiert. Im Buch lebt sie wieder auf: Als Gäste der FU haben die Schriftsteller ihre Wohnungen in der Garystraße, am Rüdesheimer Platz und am Prager Platz, sie kaufen ihre Schreibwerkzeuge in Papierhandlungen in Wilmersdorf, unter dicken Staubschichten das feine Griffelsortiment, der ganze verblichene Glanz des Viertels, sie sitzen im Café Einstein mit seinen Damasttischdecken, sie warten auf ihre Verabredung vor der Deutschen Oper.

Schon fast zum Schluss fährt Michèle Métail mit dem Bus durch Kreuzberg, steht Glogauer Straße/Ecke Paul-Lincke-Ufer und schaut aufs Wasser. „Achtung, Querströmung“ steht auf einem Schild, und sie staunt: So was. Und das mitten in einer Stadt. Verena Friederike Hasel

„Berlin Hüttenweg“ ist erschienen bei Matthes & Seitz und kostet 18,80 Euro.

Verena Friederike HaselD

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