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Was machen wir heute?: Fortziehen

Ich bin mit kühnen Erwartungen nach Berlin gezogen. Das Wilde, Freie, ja das Gefährliche lockte mich.

Ich bin mit kühnen Erwartungen nach Berlin gezogen. Das Wilde, Freie, ja das Gefährliche lockte mich. Zunächst wohnte ich in Prenzlauer Berg und fand die Gegend beschaulich bis steril. Ich frühstückte mit Bauarbeitern in der „Kleinen Deponie“, trank Kaffeekreationen unter Bürgern, wie ich sie aus den Jugenstilhäusern kleiner Städte kannte und traf Menschen aus dem „Literaturbetrieb“. Ihm möchte ich danken: Wann immer ich nicht einschlafen kann, denke ich an seine Wettbewerbe, Reden, Kolloquien, an seine Torhüter und deren devote Schützlinge, schon schlummere ich in seliger Selbstvergessenheit. Aber zum Schlummern bin ich ja nicht nach Berlin gezogen.

Ich versuchte es in Lichtenberg. Auch dort: Ruhe und Frieden. Wunschloses Unglück, in dessen Asche weder die Glut der Revolution noch der Utopie zu glimmen schien, da jeder Funke mit Bier gelöscht wird. Überhaupt: Berlin und der Alkohol – eine triste Schicksalsgemeinschaft, verhält sich doch Alkohol zum wilden Leben wie Pornografie zum Sex: ein unterkomplexes Substitut.

Auch Friedrichshain mit seinen Studenten und „Kreativen“: ruhig, etabliert. Es lebte sich immer nett. Zu nett, wie ich fand. Bis ich begriff: Es lag an mir. Wo immer ich wohnte: In kürzester Zeit galt die Gegend als „angesagt“, die Preise stiegen, Einheimische mussten gehen, Immobilienspekulanten mussten Eckkneipen dichtmachen. „Sushi“-Schilder prangten, wo es eben noch „Berta’s Billig Bulleten“ gegeben hatte.

Was soll ich sagen? Es tut mir leid. Um Berlin nicht völlig in den Dornröschenschlaf zu versetzen, ziehe ich um. Dorthin, wo ich keinen Schaden mehr anrichten kann.

Der Ex-Neu-Berliner notiert im „Dorfkrug“ seiner neuen Heimat Bonn Lengsdorf diese Zeilen und möchte in seiner letzten Kolumne in einem atmosphärischen Spagat gleich zwei Tagestipps formulieren. Anselm Neft

18.30 Uhr Garbatyplatz (Pankow): „Gegen das Vergessen“ – Internationaler Holocaust-Gedenktag. 20 Uhr, Kantine im Berghain (Kreuzberg): Harald Martenstein liest aus seinem Roman „Gefühlte Nähe“.

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