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Was machen wir heute?: Mitsingen

Ich bin ohne Hymne aufgewachsen. Das ist irgendwie blöd, gerade jetzt, da wieder der große Fußball rollt.

Ich bin ohne Hymne aufgewachsen. Das ist irgendwie blöd, gerade jetzt, da wieder der große Fußball rollt.

Einigkeit und Recht und Freiheit. Das war nicht so meins. Die Hymne der DDR mochte ich lieber. Sie hatte einen Text, so verheißungsvoll, dass die SED das Mitsingen lange vor meiner Geburt verboten hatte: „Auferstanden aus Ruinen/ und der Zukunft zugewandt/ Lass uns dir zum Guten dienen/ Deutschland einig Vaterland.“ Johannes R. Becher hatte einst die Verse ersonnen – ein Dichter, den wir als Pioniere zu verehren hatten, weil er einst Stalin verehrt hatte. Meine Schule trug seinen Namen, am Eingang stand Bechers Kopf in Bronze.

Zum ersten Mal sang ich meine Hymne im Biologie-Unterricht. Damals brachten die Leipziger jeden Montag das Regime ins Wanken, und dienstags und donnerstags lehrte uns meine Biologie-Lehrerin die Demokratie. Sie war im „Neuen Forum“ und das Einzige, was ihr Unterricht mit Biologie zu tun hatte, waren ihre selbst gepflückten Blumen auf dem Lehrertisch. Sie las Stefan Heym vor, Christa Wolf; Bücher, die es in keinem Laden gab. Sie brachte uns die Hymne bei. Und – das gehörte ja zu ihrem Beruf – sie erzählte uns, wie Sex funktioniert. Wir waren der erste Jahrgang, der Kondome über Bananen zog. Nach dem Klingeln aß jeder seine Banane auf.

An die neue Hymne muss ich mich noch gewöhnen. Erst einmal kam sie mir über die Lippen: im Sommer 2006 in einem Biergarten in Prenzlauer Berg. Selbst hier, wo 40 Prozent Grün wählen, trugen alle die Farben der WM: schwarz-rot-gold. Als die Hymne erklang, stand ich auf. Auf der Leinwand sah ich die jungen Spieler im Stadion stehen und ich registrierte, wie selbstverständlich sich ihre Lippen bewegten. Leise stimmte ich ein. Es war das bisher einzige Mal in meinem Leben, dass ich von Einigkeit und Recht und Freiheit gesungen habe.

Ob es jetzt bei der Europameisterschaft meine Hymne wird?Robert Ide

EM-Fußball gibt es täglich im 11 Freunde- Quartier „Fuhrpark“ neben der Arena Treptow an der Puschkinallee. Der Eintritt ist frei.

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