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Was machen wir heute?: Sinn suchen

Auf das Treffen mit M. war ich gut vorbereitet.

Auf das Treffen mit M. war ich gut vorbereitet. Als ich bei ihm klingelte, war ich bewaffnet mit Neujahrsbonmots. Die Umstände haben mich dazu gezwungen.

M. ist ein sehr ausgeglichener Mensch, zumindest 51,5 Wochen im Jahr. M. ist Single, er ist 25 geworden, 30, 35, ohne das diffuse Gefühl, dass es mit ihm irgendwie unaufhaltsam zu Ende geht. Die Jugend, das Leben etc.

Wenn es auf einen Jahreswechsel zugeht, ist das anders. M. entsorgt das aktuelle Jahr: Fotos, Briefe, er verschenkt Bücher, von denen er glaubt, dass er sie nicht mehr lesen wird, weil er sie schon viel zu lange nicht gelesen hat. Er versucht, sich an die Fotos und Briefe zu erinnern, die er nicht gemacht und nicht geschrieben hat und die niemand ihm geschickt hat. Dann trennt er sich auch von dieser Dokumentation gelebten Lebens. Er sagt, es mache ihn frei. Zuletzt bleibe vom Leben doch immer eine Erinnerung zurück, die sich nicht von Dingen abhängig mache.

„Und deine Vorsätze?“, fragte ich vorsichtig, als M. die zweite Flasche Wein öffnete. Er grinste. Von seinen Vorsätzen trennt M. sich nicht. Das ist so verlässlich wie die Tatsache, dass ich niemals Präsident von Funafuti werde. M. nimmt sich zwar Dinge vor, aber nicht ernsthaft. Seit Jahren raucht er immer noch. „Ohne Vorsätze ins neue Jahr gehen“, sagte M.

„Es gibt bereits alle guten Vorsätze, wir brauchen sie nur noch anzuwenden“, sagte ich. Blaise Pascal schien mir jetzt angemessen. „Dann sind sie nichts wert“, sagte M. „Jedes Gefühl ist schon gefühlt. Jeder Gedanke gedacht. Du musst es selbst tun, mit Inhalt füllen.“ „Sicher. Aber was hat das mit dem Ende eines Jahres zu tun? Hättest du keinen Kalender, du würdest nicht auf die Idee kommen ...“ M. unterbrach mich. „Können wir das Duell abbrechen? Ich würde dir Bataillone von Neujahrsaphorismen ersparen. Ich bin bewaffnet, ich warne dich.“ Marc Neller

Aphorismen, die nicht mehr gesagt wurden: „Ich hoffe, im neuen Jahr wieder mehr wollen zu können und weniger müssen zu müssen.“ (Hans „Johnny“ Klein). „Sobald man davon spricht, was im nächsten Jahr geschehen wird, lacht der Teufel.“ (japanisches Sprichwort).

Marc Neller

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