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Kultur: Was machen wir heute?: Verkehrsfunk hören

Ein gutes Jahr bin ich schon in dieser Stadt der Städte, und ich kenne sie, als ob sie meine wäre. Das ist seltsam, denn ich gehe so gut wie nie aus.

Ein gutes Jahr bin ich schon in dieser Stadt der Städte, und ich kenne sie, als ob sie meine wäre. Das ist seltsam, denn ich gehe so gut wie nie aus. Ich lebe als Eremit in meiner Klause hoch über der neuen Mitte, esse, schlafe, und wenn ich was erleben will, dann reiße ich die Fenster auf. Ich mag es, wenn die Stadt zu mir kommt, und ich im Sofa weiter pennen kann. Es gibt mir das gute Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen.

Aber ich kenne sie. Ich kenne die Sonnenseiten und die finsteren Plätze. Ein paar Beweise gefällig? Gerne: Ich weiß nicht nur, dass im Umland ein Nest namens Saarmund liegt, sondern auch, dass es dort eine Autobahnausfahrt gibt, die noch dazu gesperrt ist. Ich weiß, dass es auf dem Autobahnzubringer Reinickendorf eine teuflische Baustelle gibt, ich kenne die Karl-Marx-Allee, ich habe schon viel von der Heerstraße, dem Hermannplatz und der Sonnenallee gehört. Ich kenne sie alle, sie besuchen mich oft in meinem Wohnzimmer, denn, ja, ich habe Radio. Und weil ich ein Schrull bin, höre ich nichts so gerne wie den Verkehrsfunk. Kaum dudelt aus der Küche "der beste Verkehrs- und Blitzerreport der Stadt", "alle Stau- und Radarinformationen hören sie nach der Werbung", oder "die aktuellen Verkehrsinformationen in einer Stunde", schon bin ich nicht mehr zu halten, sause hin und drehe den kleinen Sony auf Maximum.

Wozu noch eine Fremdenführung machen? Wen interessiert schon der Reichstag, wenn einem Radio Eins erzählt, dass wegen eines Wasserrohrbruchs die Uhlandstraße zwischen Kantstraße und Kurfürstendamm gesperrt ist? Alles Wichtige über den CSD erfahre ich bei R.S. 2 - "zur Zeit sind wegen des Christopher Street Day die Potsdamer Straße, die Wilhelmstraße und die Straße des 17. Juni gesperrt". Was für ein Spaß, wenn man hört, dass auf der A 115 zwischen Hüttenweg und Michendorf rein gar nichts mehr geht. Mein Radio geht ohne Probleme. Und erst die Blitzermeldungen. Toll! Vor allem, weil die Verkehrsfunker ihren ganze journalistischen Ehrgeiz in die Suche nach ständig neuen Synonymen für das Wort "Radarfalle" legen.

Meine Top drei: Platz drei - "bitte recht freundlich heißt es auf der ..." Platz zwei - "ein besonders teures Feierabendfoto bekommen sie auf der ..." und Platz eins - einem leibhaftigen Polizisten können sie auf der ... zuwinken".

Kürzlich besuchte mich ein Freund aus der anderen Stadt. Einen Tag lang saßen wir nur so rum, rauchten, quatschten über die alten Zeiten. Dann wurde ihm langweilig und er wollte die Stadt erkunden. Ich zeigte ihm meine Stadt - die Karl-Marx-Allee, den teuflischen Tunnel in Reinickendorf und die Stelle in der Uhlandstraße, wo es kürzlich einen Wasserrohrbruch gab. Als ich mich anschickte, ihn zur gesperrten Autobahnausfahrt Saarmund zu führen, machte er schlapp. Er meinte, Berlin würde mir nicht gut tun, und setzte sich allein in einen Sightseeing-Doppeldeckerbus. Ich fuhr nach Hause, und während ich auf ihn wartete, hörte ich Radio.

Markus Huber

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