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Was machen wir heute?: Vom Feiern ausschlafen

Wie ein Rentnerdie Stadt erleben kann

Wenn es nicht so gekommen wäre wie es gekommen ist, würden wir noch heute im Osten alle unseren Rausch ausschlafen: Eine mächtig gewaltige Feier liegt hinter uns. Es gab den 60. Jahrestag der DDR. Mit Pauken und Trompeten wurde am 7. Oktober gefeiert, der Alex bebte vor Volksfesten, Schriftstellerlesungen, Militärparaden und Rockkonzerten, stolz schritten die Träger des Ordens „60 Jahre gesellschaftlicher Fortschritt“ an der Spitze eines Demonstrationszuges in der Karl-Marx-Allee an der Partei- und Staatsführung vorbei, natürlich, wie all die Jahre zuvor, heftig winkend, Papiertaschentücher schwenkend und voller Glückseligkeit über eine kämpferische Rede, die der Genosse Generalsekretär gerade von seinem 60-seitigen Manuskript (für jedes Jahr eine!) vorgelesen hatte. Die „Distel“ führte zur Belustigung aller Demonstrationsteilnehmer – nachdem diese auf dem Alex ihre Fahnen, Transparente und die führenden Köpfe der Partei- und Staatsführung auf die Ladeflächen bereitstehender Wagen der Berliner Stadtreinigung geworfen hatten – ein Programm auf, in dem sie die Losungen zum 60. Jahrestag auf die kabarettistische Schippe nahm: „Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft“. „Jeder macht, was er will, keiner macht, was er soll, aber alle machen mit!“ Oder: „Wo wir sind, ist vorn, wenn wir hinten sind, ist hinten vorn!“ Da muss doch mal gefragt werden, warum einem im Sozialismus das Leben so schwer fällt. Weil es unaufhörlich aufwärts geht! Und warum, liebe Rentner, haben die meisten von uns den Wunsch, lieber in die Osthölle als in die Westhölle verfrachtet zu werden? Dort geht es einem nämlich viel besser. Von wegen Fegefeuer! Mal haben sie kein Öl, mal ist der Ofen kaputt, kein Klempner kommt, und dann gibt es ewig keine Streichhölzer. Wisst Ihr, liebe feiertrunkene Ost-Rentner, was das Schärfste ist? Die DDR hat’s geschafft. Das Rentenalter erreicht. Jetzt darf sie endlich rüber! Lothar Heinke

„Kunst und Revolte ’89“, bis 11. Oktober in der Akademie der Künste, Pariser Platz.

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