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Kultur: Was machen wir heute?: Warten lernen

An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Dieser Moloch Berlin, dieser Wüstling von Stadt - rette sich, wer kann.

An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Dieser Moloch Berlin, dieser Wüstling von Stadt - rette sich, wer kann. Und dann der Berliner an sich, oh ja, wir kennen ihn, den garstigen Gesellen, dem das Maul stets über den Kopf wächst, den rastlosen Rechthaber im Jogging-Anzug. Alle Buchstaben des Schreckens standen am Himmel und verhießen dem unbedarften Süddeutschen eine Ankunft im Ungemach. Sage niemand, man habe ihn nicht gewarnt.

Und aller Schrecken wurde wahr. Suchte sich Orte, an denen unsereiner ihn kaum vermutete. Supermarkt-Kasse, wo schroffe Zurechtweisungen wegen mangelnden Kleingelds bis weit in die Nudelregale schallten. Bankschalter, wo die fehlende Unterschrift auf einem Formular ein Strafgericht biblischen Ausmaßes über das Haupt des Neu-Berliners prasseln ließ. Und gar all die Unbilden bei der Überquerung der Fahrbahn. Wo der glutäugige Sizilianer - per cortesia! - charmant sein Fahrzeug bremst und der grantige Bayer - geh weida! - immerhin noch Gnade vor Recht ergehen lässt, ist der Berliner Autofahrer von bewunderungswürdiger Konsequenz. Da gibt es nichts und niemanden, der ihn zum Spurwechsel oder gar zur Verzögerung des Tempos verlassen könnte. Wäre ja noch schöner, wieso geht dieser Fußgänger ausgerechnet hier über die Straße. Wofür sind denn die Ampeln da?

Womit wir endlich beim Thema wären. Weil den Neu-Berliner kaum etwas so sehr verblüfft wie das Verhalten des Alt-Berliners an der Fußgängerampel. Die nämlich scheint das Einzige zwischen Himmel und Erde zu sein, was ihm, dem Eingeborenen, Respekt einflößt. Und zwar gehörigen. Kaum schaltet sie auf Rot, schon bleibt er stehen. Angewurzelt, unbewegbar. Und alle tun es ihm gleich, ja, selbst fröhliche Türkenfamilien erfasst hier der Ernst des Lebens: stillgestanden! Sogar Menschen, denen keineswegs Gesetzestreue ins Gesicht geschrieben scheint, sondern vielmehr unverhohlene Lust am nächstbesten Offizialdelikt, beugen sich der Autorität der Ampel. Nur wir Neu-Berliner haben offenbar nichts begriffen, schlendern ahnungslos und lässig gegens Rotlicht an. Und müssen schwere Rügen einstecken. "Wir warten", tönt es vorwurfsvoll. "Wir warten alle!" Sofort gleicht unsere Gesichtsfarbe dem Ampelmännchen, und wir schwören uns, dergleichen nie wieder zu tun. Und merken: Das war die erste Lektion auf dem langen Weg zum Alt-Berliner.

Bleibt bloß noch die Frage, woher die Berliner diesen beneidenswerten Ordnungssinn haben. Preußisches Erbe? Geduld als Tugend des Stasi-Staats? Frontstadt-Disziplin? Fortwährende Drohkraft der Farbe Rot? Niemand weiß bisher die Antwort. Warten wir also weiter. Notfalls sogar an der Ampel.

P.S. Nein, es bleibt noch eine zweite Frage: Warum steht die fundamentale Bedeutung des Rotlichts in einem geradezu gemeinen Verhältnis zur Dauer der Grünphase? Kaum erlaubt sie gnädig das Betreten der Fahrbahn - schon ist sie wieder vorbei, und wir sind doch noch mitten auf der Straße. Berlin, du rätselhafte.

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