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Kultur: Was wisst ihr von Liebe?

Furios: Simon Rattles Auftakt bei den Berliner Philharmonikern

Von Frederik Hanssen

Simon Rattle eröffnete den Abend mit flammender Gebärde, setzte dem Orchester mit äußerster Nachdrücklichkeit zu und erzwang so eine Interpretation, die orchestrale Sinnlichkeit hatte. Diese Worte sind fast 25 Jahre alt. Wolfgang Burde schrieb sie im Oktober 1977 im Tagesspiegel, als in der Konzertreihe „RIAS stellt vor“ ein 22-jähriger Wuschelkopf aus Liverpool vor das Berliner Radio-Sinfonie-Orchester trat. Viel Applaus gab es damals für den „sympathischen und intensiven Musiker“, auch wenn er vor lauter Tatendrang übers Ziel hinausschoss, das Orchester „gelegentlich grob, bisweilen rührend ungelenk, auch ahnungslos“ in „schäumende Verausgabung“ trieb.

Das Feuer ist ihm geblieben, der Jubel auch: Als gereifter Interpret und nobilitierter Sir ist Simon Rattle am Sonnabend nach Berlin zurückgekehrt, um zu bleiben. Bei diesem offiziellen Beginn einer wunderbaren Freundschaft wollte nicht nur tout Berlin, sondern auch überregionale Prominenz von Bundespräsident Rau bis Harald Schmidt unbedingt dabei sein. Kein Platz ist mehr frei in der Philharmonie, knisternde Spannung liegt in der Luft. Mit einem passend zur Haarfarbe ausgewählten, silbergrauen Kummerbund unterm Frack betritt Rattle den Saal, schreitet an der eleganten Bühnendekoration aus vielfarbigen Rosen vorbei zum Pult, lächelt sein fotogenes Lächeln – und beginnt seine Ära als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nicht mit Beethovens „Weihe des Hauses“, nicht mit Brahms „Festouvertüre“, sondern mit „Asyla“ seines Landsmanns Thomas Adès. Wer will, kann das als ästhetisch-politisches Statement lesen, als Rattles Richtungsweiser. Stärker als bisher soll das weltbeste Orchester seine musikgeschichtliche Sehkraft schärfen und zwar in beide Richtungen: Über Mozart und Haydn bis zum Barock,, über die Klassiker der Nachkriegszeit bis zu quicklebendigen Meistern wie dem 1971 geborenen Adès.

Die Philharmoniker, die sich bei dem groß besetzten Werk nahezu vollzählig auf der Bühne drängelten, wachsen Simon Rattle beim Spielen förmlich entgegen. Ihrem neuen Chef sind sie in Neugier verbunden. Das Publikum dagegen scheint sich zunächst eher unter dieser deutschen Erstaufführung wegducken zu wollen. Schon nach wenigen Minuten aber heben sich immer mehr Blicke aus den Programmheften und schwenken aus glasiger Ferne zum Geschehen zurück. Thomas Adès nämlich schreibt Musik, in der jeder etwas für sich finden kann. Als typischer Vertreter der um 1970 geborenen Generation sind ihm Dogmen und Theoreme fremd, mit weit geöffneten Ohren gewährt er allen erdenklichen Stilen Asyl, amalgamiert Fernöstliches und harte Beats, Schwerblütig-Spätromantisches und jazzige Sounds. Und weil er über ein enormes Tonsetzer-Handwerk verfügt, entsteht eine Soundcollage, die fast genauso viel über unsere Zeit erzählt wie Gustav Mahlers Musik über die letzte Jahrhundertwende.

Darum war es auch nur folgerichtig, dass der neue Chef das 20. Jahrhundert an den Eckzipfeln packte und Adès’ 1997 entstandene „Asyla“ mit Mahlers fünfter Sinfonie von 1902 kombinierte. So wie Rattle sie dirigiert, werden beide Werke zu Geistesgeschwistern: Lustvoll ist das Adjektiv, das seine Musizierhaltung vielleicht am ehesten trifft. Mahlers Modernität zu zeigen, ist Simon Rattle äußerst wichtig, den Umgang des Komponisten mit einer zersplitternden Welt. Und trotzdem definiert er die Fünfte als ein letztes Beispiel positiver Lebenseinstellung. Der einleitende Trauermarsch wurde zur glühenden Lebensfeier, dem „stürmisch bewegten“ zweiten Satz fehlte alles Beängstigende. Genüsslich schmiegen sich Dirigent und Orchester ins Walzerthema des Scherzos, um die Tanzmetapher dann mit coolem Lächeln zu dekonstruieren.

Angelpunkt dieses überrumpelnden Interpretationsansatzes ist Gustav Mahlers junge Liebe zu Alma Schindler. Im berühmten Adagietto lässt Simon Rattle den Komponisten ein zärtliches Liebeslied singen, frei von zerfließendem Sentiment, aber auch ohne jene düstere Vorahnung, die Luchino Visconti dem Stück für immer aufgedrückt hat, als er es für seinen „Tod in Venedig“ zweckentfremdete. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass der Wechsel an der Philharmoniker-Spitze eine messerscharfe Zäsur darstellt. Ob die Wahl der Sinfonie eine letzte Verbeugung Rattles vor seinem Vorgänger und eminenten Mahler-Interpreten Claudio Abbado ist oder doch eher ein Wunsch seiner Exklusiv-Plattenfirma EMI (die den Live-Mitschnitt des Konzertes bereits am 30. September als CD ausliefern wird), ob man lieber mit dem feingeistigen Italiener zu gedankenverlorenen Seelenflügen aufbricht oder sich von der Power des britischen Partitureroberers mitreißen lässt – dieser Abend hat eine unmissverständliche Botschaft: dass bei den Philharmonikern nichts so bleiben wird, wie es war.

In diesem Sinne: Welcome, Sir Simon.

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