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Kultur: Was wollen diese Typen hier?

Von Berlin nach Nowgorod: Eine Reise in die Kälte. Aus dem Tourtagebuch der Band Virginia Jetzt!

Wir sind zu acht und warten am Flughafen Schönefeld darauf, dass es losgeht. Es ist nicht kalt, aber ruhig stehen bleiben können wir nicht, so aufgeregt waren wir selten. Auf Einladung des Goethe-Instituts reisen wir für zehn Tage nach Russland, wo wir an fünf verschiedenen Orten Konzerte geben.

Angelo hat Angst. Schon vor Tagen meinte er, wir sollten nicht fahren. Wegen der politischen Lage in Russland. Die Konzerte absagen? Kommt nicht in Frage, viel zu sehr sind wir anderen gespannt auf die Menschen, die Wolga, den Wodka. All das Mysteriöse an Russland, von dem wir gehört haben, wollen wir erleben.

Am Moskauer Flughafen erwartet man uns nicht. Grimmige Menschen prüfen sehr genau unsere Sachen, von oben bis unten schauen uns die Beamten an. Was wollen diese Typen bei uns? Wir wollen Rock spielen und Mädchen knutschen, was sonst? In einem Kleinbus fahren wir von einem Flughafen zum nächsten. Abgase dringen von draußen herein. Einen TÜV gibt es hier nicht. Die Häuser links und rechts sind sehr mächtig und sehr alt. Wir sehen den ersten IKEA-Laden Russlands, zwischen den grauen Riesen wirkt er fast mickrig und verloren. Am nächsten Flughafen wieder dieser fragende Blick – was wollen diese Typen hier?

All die Gerüchte über russische Inlandflüge sind nichts im Vergleich dazu, wie es wirklich ist. Unsere Maschine stammt aus Zeiten, in denen Zaren dieses Land regierten. Die Sitze sind mehr als unbequem, einige Gepäckfächer lassen sich nicht schließen, der Bodenbelag ist an einigen Stellen nicht mehr vorhanden und man kann das verrostete Aluminiumskelett sehen, Kaugummi und Bauschaum scheinen diesen Vogel zusammenzuhalten. Zu allem Überfluss hören die Russen auch während des Starts nicht auf zu telefonieren. Da möchte man selbst auch noch mal eben zu Ha use anrufen und sich verabschieden.

Die erste Stadt ist Kasan, die Hauptstadt von Tartastan, eine autonome Republik in Russland. 1,5 Millionen Menschen leben hier. Und wir wollen natürlich noch Wodka trinken. Ängstlich schleichen wir durch die Hauptstraße und vermeiden jeden Blickkontakt. Fremde in der Stadt! Wie in einem Western werden wir angeschaut. Wir steuern eine Bar an, doch der Türsteher schüttelt nur den Kopf und verschränkt seine Arme. In einer Open Air Disco sind sie gnädiger. 250 Kids tanzen wild gestikulierend zu Russen-Eurodance. Wodka gibt es nicht, aber Bier – „Sibirische Krone“. Schmeckt ganz gut. Die Leute vom Club merken schnell, dass wir aus Deutschland kommen, ich quatsche mit dem DJ, er kennt Rammstein und Modern Talking und spielt es auch prompt. Zwischen dem unsäglichen Techno wirken die Dieter-Bohlen-Beats richtig frisch – wir tanzen. Das Publikum wird um vier Uhr auf die Straße gefegt, doch wir sollen bleiben. Wir sind inzwischen zu betrunken, um uns noch Sorgen zu machen. Der Clubbesitzer verschwindet mit einer leeren Saftflasche und kommt mit gefüllter zurück. Endlich gibt es Wodka!

Simone Voigt vom Goethe Institut lacht, als sie uns morgens sieht. Sie war schon mit Mia und Tocotronic unterwegs, wir sind nicht die ersten mit Kopfschmerzen. 1000 Leute kommen zu unserem ersten Konzert. Wir sind überwältigt. Aber wie sollen wir mit dem Publikum umgehen? In der ersten Reihe stehen Mädchen und schauen uns mit großen Augen an. Während der Lieder werfen sie uns Luftküsse zu, die Jungs recken ihre Daumen hoch. Nino und Thomas packen all ihre Russisch-Kenntnisse aus. „Himmel über Berlin“ singen wir in der Landessprache, der Saal tobt.

Hinter der Bühne warten jede Menge Leute, ein kleines Büffet ist angerichtet, der Assistent vom Präsidenten hat Geschenke und Wodka dabei. Nur ein Glas und wir schnappen nach Luft, die Tartaren lachen. Ein Trinkspruch jagt den nächsten, jeder hält eine Rede auf die frische Freundschaft, die Musik, die Straßen, auf Frauen, Gitarren - auf alles. Wankend verlassen wir den Club.

Nischnji Nowgorod. Eine wunderschöne Altstadt, unsere Blicke gehen auf die mächtige Wolga, deren anderes Ufer endlos weit entfernt ist. Die untergehende Sonne spiegelt sich in diesem längsten See der Welt. Markus und Holger, DJs von Le Hammond Inferno, sind auch gerade als Goethe-Botschafter unterwegs. Wir gehen gemeinsam essen. Das Essen in Russland ist eher fad, Gewürze und Geschmacksverstärker kennt man nicht, die Portionen sind sehr klein, dafür gibt es nur wenige dicke Menschen hier. Wir essen nur in Gasthöfen oder Kneipen. Die Bedienungen sind unfreundlich – mürrisch nehmen sie die Bestellungen auf. Sehr melancholisch, wütend und unfreundlich ist die Atmosphäre, während überall Russentechno läuft. Die Menschen sagen einem nicht einmal Guten Tag, sie sind ohne jede Regung, wir nennen sie Frozen Brains. Erst nachts in den Clubs werden die Leute aufgeschlossener und suchen Kontakt

Wir lernen ein paar Mädchen in Nischnij kennen, die an der Universität Deutsch lernen. Für Politik interessieren sich alle, Putin und Beslan sind Dauerthema. Shanna sieht in Putin die Persönlichkeit, die dieses Land braucht, Tanja glaubt nicht daran. Ihr Vater ist Ingenieur, ihre Mutter Dolmetscherin – sie verdienen nicht sehr viel, aber kommen aus. Armut und Reichtum liegen in diesem Land so dicht beieinander wie Friedrichshain und Kreuzberg. Die Zentren sind sehr schön, doch gleich nebenan herrscht Elend. Vielen Menschen stehen nicht mehr als umgerechnet Hundert Euro im Monat zur Verfügung. Zwischen einer Kirche und einem modernen Hochhaus stehen in Samara Holzhütten, alte Menschen sitzen auf der Straße und verkaufen Obst.

Die Konzerte in Samara und Saratow sind irre gut, als würden wir vor Leuten spielen, die uns schon lange kennen. Sie sind heiß auf unsere Musik und es spielt keine Rolle, dass sie unsere Texte nicht verstehen. Angelo hat Geburtstag. Er bekommt Pralinen, Wodka, Schokolade und eine doppelte Portion Luftküsse geschenkt. Auch in Russland können viele Jungs nichts mit uns anfangen, die Mädchen schreiben uns kleine Zettel während des Konzerts, darauf steht „Singen Sie mir ein Lied, Sie sind schön“. Ein hübsches Mädchen zieht, während sie einen solchen Zettel übergeben will, Nino an sich und küsst ihn. Während man in Deutschland oft Monate mit Kaffeetrinken zubringt, um einen Kuss zu ergattern, passiert in Russland alles während eines Liedes.

Unser letztes Konzert findet in Rostow statt. Auf der 15-stündigen Busfahrt werden unsere Pässe immer wieder kontrolliert und der Fahrer muss immer wieder für irgendetwas bezahlen. Was wollen diese Typen hier? Das Konzert ist schlecht besucht, kaum Jugendliche. Ältere Männer sitzen mit deutlich jüngeren Mädchen an Tischen und trinken Wodka. Spielen wir heute vor der Mafia? Wir wissen es nicht. Die letzte Nacht verbringen wir im Hotelzimmer mit Bier und Wodka, wir rekapitulieren noch einmal die letzten Tage, unsere Ankunft liegt gefühlte sechs Monate zurück. In Russland gibt es kein Mittelmaß, die Leute sind freundlich oder nicht, die Häuser sind schön oder nicht, die Menschen sind arm oder reich. Wir freuen uns auf das Mittelmaß in Deutschland.

Der Autor ist Bassist der Berliner Band Virgina Jetzt! Das Quartett, das zuletzt die CD „Anfänger“ veröffentlicht hat (Universal), spielt am 19. November im SO 36.

Mathias Hielscher

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