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Kultur: Waschen & Weinen

Sebastian Baumgarten riskiert mit Massenets „Werther“ an der Deutschen Oper Berlin den Skandal

Von Christine Lemke-Matwey

Da hockt sie nun. Ein irres Bündel Elend. Hellblaues Adidas-Jäckchen, geblümtes Röckchen, wollene Strumpfhosen. Und die langen Haare – ehedem noch à la Claudia Schiffer lockenprächtig aufgetürmt – strähnig überm entgeisterten Gesicht. Nur die Pumps sind ihr geblieben. Ein blutroter Gruß aus besserer Zeit. Mädchenschuhe, Märchenschuhe. Das Ganze: ein auf dem Kopf balancierendes Aschenputtel-Schicksal. Erst das Glück und die Liebe, nicht ungetrübt, nein, der Tod der Mutter, die Geschwister, der Vater und, ach, zwei Männer, aber doch da und irgendwie kostbar, irgendwie zu leben – und dann Absturz, Genickbruch, Infarkt sämtlicher innerer Organe. Und all das ausgerechnet, so wollen es mit Goethe Massenets Librettisten, zu Weihnachten.

Da hockt sie also nun an Heiligabend um fünf Uhr, Charlotte in Gestalt der sich hier förmlich die Seele aus dem Leib speienden Mezzosopranistin Charlotte Hellekant, und vertraut ihr ganzes bürgerliches Elend von den „ungeweinten Tränen“ („Les larmes qu’on ne pleure pas“) der Trommel einer blaugrünen Waschmaschine an. Eine schöne Bescherung. Weihnachten im Waschsalon. Aber: eine Provokation? Rumoren im Saal, Buhgezeter, als sich nach der Pause der Stückvorhang zum dritten Akt hebt.

Der übliche Trash, das übliche Wegwischen jedweden Gefühls durch heutige Hässlichkeiten? Ganz im Gegenteil. Vielmehr: eines der eindrücklichsten, stimmigsten, innigsten Bilder des Abends. Denn was ist trauriger – und soviel Pathos, soviel Direktheit trauen sich Regisseur Sebastian Baumgarten und sein Bühnenbildner Hartmut Meyer zu, von Massenet beflügelt, von den beharrlich ausströmenden, duftig-schwülen Klangreizen der Partitur offenbar ebenso ermutigt wie erschöpft –, was also ist trauriger, was schauriger, als das Fest der Liebe an einem derart unverbindlichen, kaltherzig funktionalen Ort? Der einsame Saxophonspieler vorne rechts (Christian Peters) und die sich verloren im Blues wiegenden beiden Alten hinten – allesamt Kunden des Salons – vervollständigen die Komposition dieses gespenstisch-realen tableau vivant einer längst zum Tode verurteilten Welt.

Und was wäre wohl wahrhaftiger für Charlotte, die Frau, die sich endlich dazu durchgerungen hat, ihrer Lebenslüge ins Gesicht zu blicken? Gewiss, einiges an der Inszenierung ist hier zu viel und zu platt. Warum müssen sich Werthers Briefe, diese Manifeste einer überzüchteten Weltferne und Selbstverliebtheit, ausgerechnet in einem Plastikwäschekorb sammeln (andererseits: wo sonst?). Und hätte es nicht genügt, wenn Charlotte einen dieser Briefe an die Wand des die Bühne beherrschenden Fahrstuhls geheftet hätte und wenn sie einmal mit zwei Wäschestücken wie mit zwei Puppen spielte?

Das weiße W

Auch dass Albert, der im Geiste gehörnte Ehemann, einen stummen Auftritt zu absolvieren hat, schmutzige Wäsche bringt und säuberlich Gebügeltes eintütet, wirkt eher peinlich, da um Aktion bemüht und kaum wirklich erhellend (zumal die Figur bei Massenet ohnehin negative, ja zynische Züge trägt, wenn Albert seinem Rivalen die Pistolen erstens durch Charlotte aushändigen lässt und dies zweitens im Wissen um die Selbsttötungsabsichten Werthers tut). Und das kreideweiße „W“, welches Werther der Geliebten wie einen Rinderstempel auf die Schulter drückt, es ist letztlich viel männlich-dümmlicher und hilfloser als Werthers narzisstische Verse es jemals sein können.

Selbst wenn all diesen szenischen Nachdrücklichkeiten und Überbetonungen etwas Autistisches innewohnt, ein Ausdruck des repetitiven Endes aller Möglichkeiten, so künden sie doch auch und vor allem vom Temperament des Regisseurs. Baumgarten ist zweifellos begabt. Und er hat den Mut, was selten sein dürfte, etwas von sich preiszugeben. Er packt das Stück, diese ganz und gar antiwagnerianische „Liebeshandlung“ (Uraufführung 1892 in Wien), bei seiner kruden, alle Identifikation quasi durch Zoom erzielenden Machart, er dekonstruiert, spaltet und wirft solange mit kleinen Dynamitpäckchen, bis die einzelnen Bestandteile des ach so süßlichen drame lyrique wie havarierte Eisblöcke auseinanderdriften. Das mag zum Zuschauen und Zuhören nicht eben gemütlich sein und vor der Pause auch in ein absolutes Fiasko münden – unangemessen oder gar falsch ist dieser Ansatz nicht.

Vielleicht hätte die Dramaturgie des Hauses hier mehr kritische Sorgfaltspflicht walten lassen müssen. Vielleicht wäre Stümperhaftes wie der inzestuös veranlagte Vater Amtmann (Roland Schubert) und die unter dicken Rokoko-Perücken kuschenden Kinderlein zu Beginn oder Ärgerliches wie die sich im zweiten Akt lüstern-verderbt durchs Heu wälzende Dorfgesellschaft dann zu verhindern gewesen. Der Sturm der Entrüstung jedenfalls, der Baumgarten und sein Team (Kostüme: Hildegard Altmeyer) beim Verbeugen von der Bühne fegte, er konnte – abgesehen davon, dass das Publikum der Deutschen Oper seinem dickschädelig provinziellen Ruf einmal mehr gerecht wurde – bestenfalls den ersten beiden Akten gelten.

Denn nach der Pause ist alles komplett anders, so, als hätte jemand auf einen geheimen Knopf gedrückt, als marschierten Regie und Raum mit einem Mal geschlossen in die entgegengesetzte Richtung. Auch musikalisch gingen plötzlich vielerlei Lichter auf: Das Orchester der Deutschen Oper – das sich unter Antonello Allemandis Stabführung eher in elegischen Tempi und fein ausziselierten Kammertönen gefallen hatte, in jenem süffig-melancholischen Wohllaut eben, der Massenet, sehr zu Unrecht und bis heute, den Ruf eines virtuosen Kitschiers eingetragen hat – schwingt sich zu ungeahnten harmonischen Härten auf. Ebenso wagt es flackernde Tiefblicke in die Instrumentationskünste der Partitur, ins Mahlwerk ihrer stoisch-tragischen Reminiszenzen. Und Charlotte Hellekant und Paul Charles Clarke, die beiden Protagonisten, die bislang mit gesunden, schönen Stimmen und absolut redlich bei der Sache waren, verwandeln sich zu Sängerdarstellern allererster, intensivster Güte: Sie, die Totenbraut, mit dramatischen Ausbrüchen im vollen, gertenschlanken Mezzo und schauspielerischen Exzessen, die an der Inbrunst ihres Liebeskampfes keine Zweifel lassen, und er, der Todgeweihte, mit großem heiligen Ernst in den verlässlichen Höhen, im planen, geschmeidigen Timbre seines Tenors. Dagegen haben es alle anderen notgedrungen schwer. Gleichwohl machen Fionnuala McCarthys muntere Sophie, Markus Brücks fieser Albert sowie Jörg Schörner, Josef Becker, Yosep Kang und Gudrun Sieber in den übrigen Partien exzellente Figur.

Nymphe in Blau

Dass Clarke sich mit dem ersten Applaus schier nicht zu fassen weiß, dass er seine Erregung, seine Tränen kaum verbergen kann, spricht für Baumgartens Arbeit: All die Handgreiflichkeiten, die er seinen Darstellern zumutet, die unbändige Wut und Lust aufeinander, ihre Fallsucht zum Tode hin – sie sind nur konsequent. Und das gilt, mit Einschränkungen, auch für den Film, der zwischen drittem und viertem Akt Werthers Weg in den Selbstmord respektive in die Umkleidekabine eines Schwimmbades nachzeichnet, wo er sich die Kugel gibt. Die Patrone im freien Flug auf seine freie Stirn, das Wort „Schuss!!“ in den Übertiteln, ein schwerer Körper, der ins Wasser sinkt – das sind jene Nahaufnahmen, das ist jenes Zugrundegehen, von dem Massenets Musik im wahrsten Wortsinn spricht.

Und wenn Charlotte dann hinterherspringt und sich in der Projektion wie eine Nymphe im schönsten Chlorblau tummelt, während vorne auf der Vorbühne gestorben und für Ordnung gesorgt wird, dann hat sie sich für diesen Augenblick gelohnt, die Liebe. Und der Schmerz. Und der irre Kampf.

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