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Dagegen. Matthew Herbert und die Brexit Big Band in Aktion.

© Marc Allan/Festival

Matthew Herbert beim Wassermusik-Festival: „Zusammenspielen braucht ein Ziel“

Matthew Herbert gibt mit der Brexit Big Band das Auftaktkonzert zum Wassermusik-Festival im Haus der Kulturen der Welt. Ein Gespräch mit dem Elektro-Produzenten.

Von Andreas Busche

Mister Herbert, England ist das Mutterland der politischen Popmusik. Aber aus der Musikszene hat man seit dem Brexit-Referendum vor zwei Jahren kaum etwas gehört. Was ist auf der Insel los?

Für die meisten von uns war der Brexit stets eine abstrakte Idee, kein konkreter Plan. Viele meiner Freunde sind noch immer ganz entgeistert, sie verstehen nicht, wie es so weit kommen konnte. Man muss aber auch verstehen, dass Musiker heute viel prekärer leben als vor zwanzig Jahren. Viele verdienen ihren Lebensunterhalt als Uber-Fahrer, es ist ein täglicher Überlebenskampf. Außerdem ist der Brexit kein sexy Thema zum Musikmachen.

Aber wäre nicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, die Stimme zu erheben? Am Brexit-Referendum wurde ja auch ein Generationenkonflikt deutlich. Stattdessen hat ausgerechnet Mick Jagger mit „England Lost“ einen der wenigen Songs über den Brexit veröffentlicht.

Mein Gefühl ist, dass diese Lethargie viel mit den sozialen Medien zu tun hat. Mit- hilfe von Facebook, Twitter und Instagram organisieren wir unsere Leben inzwischen wie Mini-Marken. Es fällt schwer, sich noch als Kollektiv zu fühlen.

Was macht Sie wütender: die Ignoranz der Menschen, die für den Brexit gestimmt haben oder gar nicht zur Wahl gingen, oder die Lügen der Brexit-Befürworter wie Nigel Farage oder die „Daily Mail“?

Für viele Briten haben sich die Lebensumstände in den vergangenen 15 Jahren nicht verbessert. Man erzählte ihnen, die EU sei der Grund für ihre Probleme. Doch ihnen gilt meine Wut nicht, sie richtet sich gegen die Heuchelei von Leuten wie Jacob Rees-Mogg, einem Parlamentsmitglied und Investor aus der Brexit-Fraktion, der seinen Klienten rät, ihr Geld im Ausland anzulegen. Diese Leute haben nichts zu verlieren, die Herausgeber der „Daily Mail" zahlen nicht mal Steuern in England. Unsere Geschichte wird geschrieben von Millionären, die vorgeben, sich um die Belange der Arbeiterklasse zu scheren. Dabei geht es um Geld, Resentiments und Rassismus.

Wie sehen Ihre Erfahrungen im Alltag aus?

Ich lebe in einer Region, die stark landwirtschaftlich geprägt ist. Meine Nachbarn sind freundliche Menschen, aber auch sie haben für den Brexit gestimmt. Die Bauern in meiner Gegend kommen kaum noch über die Runden. Die EU vertritt in ökonomischer Hinsicht eine neoliberale Agenda, Wachstum um jeden Preis. Nicht alles läuft gut in der EU, aber Europa ist auch nicht der Feind.

Sie haben im Netz ein Manifest der Brexit Big Band veröffentlicht. Darin schreiben Sie, dass es „in unserem zunehmend zerstrittenen politischen Klima umso wichtiger wird, dass die britische Musikszene den Schulterschluss mit unseren Nachbarn und engsten Verbündeten sucht“.

Das klingt sehr idealistisch, aber der Brexit hat einen Graben aufgerissen. Als hätte das Votum den Menschen Etiketten angehängt: Brexit oder Remain, gut oder böse. Ich akzeptiere diese Spaltung nicht. Wenn ich mit einem Kumpel angeln gehe, bin ich gegen den Brexit, und wenn ich mit einem Bauern aus meinem Dorf rede, kann ich seine Vorbehalte nachvollziehen. Die politische Lage ist vertrackt. Die Big Band will sich nicht den Bedingungen fügen, die rechte Politiker und die „Daily Mail“ der Debatte aufzwingen.

Sie nennen den Brexit uninspiriert und idiotisch. Das sind ästhetische Kategorien. Aber wie man auch an Trump sehen kann, ist die Ästhetik nicht so leicht von der Politik zu trennen. Es gibt Bösewichter wie Nigel Farage und Boris Johnson, tragische Figuren wie David Cameron und nützliche Idioten wie Theresa May. Wie bringen Sie Ästhetik und Politik zusammen?

Ich versuche mit meiner Musik zweierlei: eine Kritik zu artikulieren sowie eine Lösung anzubieten. Wenn ein Thema ernst ist, reagiere ich darauf spielerisch. Wenn die Regierung ein Problem trivialisiert, nehme ich meine Musik sehr ernst. Henri Bergson hat das Lachen einmal als gefährlich bezeichnet, weil man dazu neigt, etwas, über das man lacht, zu unterschätzen. Gucken Sie sich doch nur Boris Johnson an, eine Witzfigur. Aber wenn Sie auf der Straße Menschen bitten, ihnen drei seiner politischen Standpunkte zu nennen, kann ihnen niemand eine Antwort geben.

Wollen Sie mit Ihrer Musik aufklären?

Man darf sich jedenfalls nicht darauf ausruhen, bloß eine Projektionsfläche für das Publikum zu liefern. Es ist auch wichtig, einen radikalen Gegenentwurf anzubieten.

Sie arbeiten seit über zehn Jahren mit Big Bands. Warum glauben Sie, dass dies die richtige Form für Protestmusik ist?

Ich halte es für die demokratischste aller musikalischen Organisationsformen. Ich gebe Kontrolle ab, an meinen Dirigenten, an die 20 Musiker auf der Bühne und an den Chor, der aus 50 bis 100 Stimmen besteht. Der marxistische Literaturkritiker Terry Eagleton bezeichnet die Big Band als die beste Metapher dafür, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte: Jedes Individuum hat seinen Platz, seine Rolle, seinen Rhythmus. Aber das Zusammenspiel klappt nur, wenn alle für dasselbe Ziel arbeiten. Das ist eine zutiefst romantische Vorstellung. Ich kann Ihnen viel über den Brexit erzählen, aber wenn ich mit Hunderten von Menschen auf der Bühne stehe, nimmt die Idee eine konkrete Form an. Dann formieren wir eine Gemeinschaft.

Ist die Big Band – politisch gesprochen – der neue Punk? Im Punk ging es um Konfrontation, bei ihnen geht es um Inklusion und Diversität.

Das ist letztlich der Grund, warum ich das alles auf mich nehme. Die Arbeit ist hart. So viele Beziehungen, die moderiert werden müssen. So viele kulturelle Unterschiede, Meinungen und Geschichten, die alle erzählt werden wollen. Und am Ende steht man auf der Bühne und denkt sich: Das sollte doch eigentlich ganz anders klingen. Aber es ist okay, weil wir alle nur Menschen sind. Die Musik führt ein Eigenleben.

Sie tragen die Idee noch weiter, indem Sie den „Brexit Sound Swap“ ins Leben gerufen haben. Menschen können Samples von drei Sekunden auf der Website hochladen.

Ja, wir haben inzwischen knapp 600 Geräuschschnipsel, die wir in unsere Aufführungen integrieren. Als wir das erste Mal in London spielten, haben wir auch Zettel im Publikum verteilt und die Leute gebeten, Nachrichten an Europa aufzuschreiben. Immer, wenn wir auf dem Kontinent spielen, falten wir diese Botschaften zu kleinen Papierflugzeugen und lassen sie nach Europa fliegen. Es geht darum, einen Dialog voranzubringen, ich sehe mich nur in der Rolle des Vermittlers. Wenn man die Theatralik der Performance erst akzeptiert hat, ist alles möglich.

Aber hat Sound in Ihren Arbeiten nicht auch eine inhärente politische Botschaft? Auf Ihrem Konzeptalbum „One Pig“ dokumentieren Sie das Leben eines Schweins bis zur Schlachtbank. Man kann den Kontext nicht ausblenden.

Absolut. Ein Stück der Big Band besteht aus den Aufnahmen einer Wanderung entlang der Grenze zwischen Irland und Nordirland. Die Bedeutung dieser Geräusche ist konkret und zugleich implizit. Diesen dokumentarischen Ansatz versuche in meiner Arbeit zu verfolgen: Am Ende ist es lediglich eine andere Version der 100 verschiedenen Stimmen auf der Bühne.

Gleichzeitig vertiefen Sie sich in bürokratische Details, etwa mit ihrem Stück zum Artikel 50 der EU-Verfassung.

Vor zwei Jahren wurde ständig über diesen Artikel gesprochen. Er beschreibt die Modalitäten, wie ein Mitglied aus der EU austritt. Weil ich wissen wollte, was es damit auf sich hat, habe ich es mal gelesen. Es ist kurz und sehr traurig, wie das Ende der Liebesbeziehung. In der Sprache eines europäischen Gesetzeswerks.

Sie planen auch eine Veröffentlichung am 29. März 2019, dem Tag des EU-Austritts. Glauben Sie, dass Sie damit der englischen Regierung zuvorkommen?

Die Leute wünschen sich gerade nichts sehnlicher als ein klares Bekenntnis – für oder gegen den Brexit. Ich bin aber davon überzeugt, dass unsere Regierung bis zur Frist zu keiner Einigung kommen wird. Doch Politik bedeutet nicht bloß Parlamente, Handelsvereinbarungen, Währungsunionen. Politik muss auch die Menschen mit einbeziehen, unsere Imagination, Literatur, Essen, Kunst, Sprache, die Liebe. Also habe ich beschlossen, die Welt zu beschreiben, wie wir sie uns vorstellen. Ich warte nicht auf die Politik.

Wassermusik, 27. Juli bis 18. August: Das Festival im Haus der Kulturen der Welt steht dieses Jahr unter dem Motto „Goodbye UK – and thank you for the music“. Eröffnungskonzert Matthew Herbert, Dachterrasse, 27.7., 20.30 Uhr.

Die Programm-Highlights:

KONZERTE: The Zombies, 29.7., 19 Uhr. Zum 50. Geburtstag ihres Albums „Odessey and Oracle“ führt die Londoner Band ihr Meisterwerk komplett auf. Orlando Julius & The Heliocentrics, 3.8., 19 Uhr. Der 1943 geborene Saxofonist Orlando Julius gehört zu den stilbildenden Musikern der westafrikanischen Funks und Afrobeats. Er wird begleitet von der Londoner Jazz-Funk-Supergroup The Heliocentrics. Scritti Politti, 18.8., 20.30 Uhr. Green Gartside ist der Kopf der 1977 in Leeds gegründeten Formation, die Mitte der achtziger Jahre eine Reihe von UK-Hits mit ihrem intelligenten Synthie-Pop hatte. Das fünfte, bisher letzte Album von Scritti Politti ist 2006 erschienen.

FILME: Fish Tank, 27.7., 22 Uhr. Andrea Arnolds Coming- Of-Age-Drama über eine 15-Jährige, die in prekären Verhältnissen lebt. Rage, 3.8., 22 Uhr. Newton Aduakas Debütspielfilm über einen jungen Rapper aus Süd-London. Control, 18.8., 22 Uhr. Anton Corbijns Hommage an den Sänger Ian Curtis.

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