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Der nächste Kunde wartet schon. Drehbuchautor Ben Sinclair (mit Helm) spielt selbst die Hauptfigur des Drogen-Fahrradkuriers in der Serie "High Maintenance".

© BHO

Webserien auf Erfolgskurs: Von Vimeo zu HBO

Webserien wie die Komödie „High Maintenance“ feiern große Erfolge mit experimentellen Erzählweisen. Und das längst nicht mehr nur im Internet. Immer mehr Fernsehsender nutzen ihr Potential.

Von Andreas Busche

Drogenbeschaffung und Vollbeschäftigung sind logistisch manchmal schwer miteinander zu vereinbaren. Aber der freie Markt hat auch für dieses Luxusproblem unserer westlichen Konsumgesellschaft eine flexible Lösung: den Drogenfahrradkurier, der seine Ware bis an die Wohnungstür liefert. Das Fahrrad erlebt in Zeiten von Bringdiensten wie Foodora und Lieferando ja gerade ein kleines Revival als Transportmittel, besonders in den autofreundlichen US-Großstädten.

Was aber, wenn das Angebot beim Dealer des Vertrauens zu wünschen übrig lässt? Der schwarze Nachbarschaftsdealer pariert die Beschwerde seiner Kundin, einer Immobilienmaklerin, die von der ökonomischen Aufwärtsmobilität ihrer eigenen Klienten abgehängt wurde und weiter in ihrem alten Viertel leben muss, mit messerscharfer Kiffer-Logik. „Welcher Weiße würde Hasch schon in deine Gegend liefern?“, entgegnet der Cornerboy, natürlich mit authentischer Goldkette. Dem Argument ist wenig entgegenzusetzen. Auch die Gesetze des Marktes kennen soziale Grenzen.

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Diese Szene aus der zweiten Staffel der HBO-Serie „High Maintenance“ greift einen Dialog in einer früheren Folge auf, in der eine Bloggerin die namenlose Hauptfigur interviewt – äußerlich ein typischer Brooklyn-Hipster mit Vollbart und Fixie-Rad, von seinen Kunden nur „The Guy“ genannt. Ob seine Käufer überwiegend weiß seien, will sie wissen (sind sie!). Und ob er glaubt, dass er wegen seiner Hautfarbe ungehindert mit Marihuana im Rucksack durch die Stadt fahren kann, während die Gefängnisse voller schwarzer Kleindealer sind. Die Fragen sind „The Guy“, ein aufmerksamer Beobachter urbaner Milieus (das bringt der Job mit sich), sichtlich unangenehm. Sein Geschäftsmodell basiere auf Mundpropaganda, erklärt er zögerlich, und ja, seine Klientel sei tatsächlich sehr homogen. Der Dialog ist eine hübsche selbstreferenzielle Vignette, die das Autorenpaar Ben Sinclair und Katja Blichfeld in die Serie eingebaut hat – deren Implikationen das Duo in der zweiten Staffel aber sehr ernst nimmt. Die zehn neuen Folgen weiten das gesellschaftliche Feld, in dem der von Sinclair gespielte Protagonist operiert. Sein Kundenstamm hat sich diversifiziert. Die dritte Folge führt ihn unter anderem in die schwarze Nachbarschaft Bushwick. Und die fünfte Episode erzählt von einer Gruppe junger orthodoxer Juden, die aus ihrer Religionsgemeinschaft ausgestiegen sind und sich nun im säkularen New York durchschlagen müssen. Viele von ihnen sprechen nur Hebräisch.

Damit tragen Sinclair und Blichfeld nicht nur dem Erfolg ihrer Serie Rechnung, die im geschützten Biotop des Bezahlsenders HBO – im Gegensatz zu den quotenabhängigen Networks – nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikums bedienen muss. Sie schöpfen endlich auch das volle Potenzial ihres Konzepts aus. „High Maintenance“ blickt auf eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte zurück. Ihre Premiere erlebte die Serie 2012 auf der Videoplattform Vimeo, 19 sechsminütige „Webisoden“ produzierte das damalige Ehepaar um den Marihuana-Kurier auf Rädern.

Porträt mit viel Liebe zum Detail

Die Pointe der Serie besteht darin, dass Sinclairs Figur eigentlich nur eine Nebenrolle spielt. Seine Dienstleistung eröffnet vielmehr Einblicke in die Leben seiner Kunden: die prekäre New Yorker Bohème, gestresste Yuppies, Großstadthippies, Stoner. Porträtiert mit viel Liebe zum absurden Detail, manchmal auch nah dran an der Karikatur – und sehr weiß. Doch die Idee eröffnete im Zuge des Serienhypes neue erzählerische Möglichkeiten: Jede Episode hat andere Protagonisten (mit gelegentlichen personellen Überschneidungen) und beschreibt unterschiedliche Milieus; die einzelnen Folgen benötigen keinen übergreifenden Erzählbogen mehr, sondern zerfallen in soziale Beobachtungen – immer mit dem lakonischen Blick des Drogenkuriers. Der Titel ist doppeldeutig, es geht natürlich ums Kiffen, aber eben auch um die komplizierten Bedürfnisse seiner Kunden. „The Guy“ ist Dienstleister, Troubleshooter und Seelenklempner.

Die Webserie war dermaßen erfolgreich, dass HBO Sinclair und Blichfeld vor zwei Jahren anbot, das Konzept für eine Fernsehserie zu entwickeln. Durchaus ein Risiko, denn über eine Länge von knapp 30 Minuten, dem gängigen Sitcom-Format, kann der spezifische Charme der beiläufigen Beobachtung auch leicht verloren gehen. Zum damaligen Zeitpunkt gab es nur einen Vorläufer, „Broad City“ von Ilana Glazer und Abbi Jacobson über zwei beste Freundinnen in New York, die sich mit Gelegenheitsjobs und kamikaze-ähnlichem Sozialverhalten über Wasser halten. „Broad City“, inzwischen in der vierten Staffel, schaffte mithilfe der Komikerin Amy Poehler („Saturday Night Life“) den Sprung vom Internet zum Spartensender Comedy Central, ohne dass die Autorinnen und Hauptdarstellerinnen ihre Formel verändern mussten. Glazers und Jacobsons an bizarren Ideen reicher Selbstfindungstrip, eine Gaga-Variante von Lena Dunhams Serie „Girls“, gehört heute zum Pop-Kanon.

Jede Episode versucht etwas Neues

Ähnlich entgrenzt – und mitunter geradezu experimentell – ist die zweite Staffel von „High Maintenance“. In der vierten Folge liegt „The Guy“ nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus und erlebt, medikamentös bedingt, einen surrealen Drogentrip. In seinem mäandernden Bewusstseinsstrom erinnert „High Maintenance“ zunehmend an Donald Glovers preisgekrönte Serie „Atlanta“. Jede Episode versucht etwas Neues, erzählerisch, formal. Sinclair und Blichfeld entfernen sich von den etablierten Standards des sogenannten Qualitätsfernsehens.

HBO hat das Potenzial von Webserien früh erkannt. Bei den diesjährigen Golden Globes war die Autorin Issa Rae für die zweite Staffel von „Insecure“, einer Weiterentwicklung ihres Web-Formats „Awkward Black Girl“, in der Fernsehkategorie „Comedy“ nominiert. HBO-Programmdirektor Casey Bloys hatte Rae für ihre Serie über den Alltag einer jungen schwarzen Frau zwischen Beziehungsproblemen und einem schlecht bezahlten Job für eine Non-Profit-Firma in einem Minderheitenviertel von Los Angeles Carte blanche gegeben. Wie die besten US-Sitcoms der letzten Jahre lebt auch „Insecure“ von der Persönlichkeit der Autorin. „Deine Individualität ist eine Währung, sie macht Dich zu dem, was Du bist“, erzählte Rae kürzlich in einem Interview.

Das kommerzielle Potenzial von Webserien haben inzwischen auch Unternehmen erkannt. Ikea und Ford entwickeln bereits eigene, qualitativ erstaunlich hochwertige Serien, natürlich zu Werbezwecken. Und einige der großen Sender finanzieren Webkanäle, um neue Talente frühzeitig zu fördern. Die Nachfrage nach Inhalten ist weiter riesig. Wenn die Fusion von linearem Fernsehen und On-Demand-Kanälen einmal vollzogen sein wird, werden Serien wie „High Maintenance“, „Broad City“ und „Insecure“ als Pionierleistungen gelten. Das ist übrigens kein rein amerikanisches Phänomen. Im arabischen Sprachraum gehören Webserien unter Jugendlichen heute zu den beliebtesten Formaten.

Die Staffel 2 von „High Maintenance“ läuft seit 19. Januar auf Sky (im englischen Original).

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