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Kultur: Weg mit dem Ego

Opernkompanie Novoflot: „Sieg über die Sonne“.

Wo sind sie nur geblieben, die unbändigen Kräfte, die die Avantgarde einstmals besaß? Wir hätten sie heute so nötig, seufzt die freie Berliner Opernkompanie Novoflot. Um unserer gegenwärtigen Schwachheit aufzuhelfen, besinnen sich die Musiktheatermacher auf einen Skandal, der vor 100 Jahren in Sankt Petersburg stattgefunden hat. Die Künstler Alexej Krutschonych, Welimir Chlebnikow, Michail Matjuschin und Kasimir Malewitsch hatten sich zur „Regierung des Erdballs“ zusammengefunden und konzipierten einen Frontalangriff auf die herrschende kulturelle Repräsentation: Ihre einzige futuristische Oper entstand.

„Der Sieg über die Sonne“ erzählt, beständig fragmentiert durch alogische Eindringlinge, die Sage von der Gefangennahme der Sonne durch den kommenden, unsterblichen Kraftmenschen. Ein Triumph der Technik über die Vernunft, eine Vision vom Verlöschen des Individuellen, der Anbruch einer neuen dunklen Zeit ohne Glück, aber mit Menschen, die nicht unglücklich zu sein scheinen.

Novoflot will keine theatergeschichtlich fundierte Rekonstruktion von „Sieg über die Sonne“ leisten, wie sie einst bei den Berliner Festwochen ausgestellt wurde. Die sanft-unorthodoxe Herangehensweise der Kompanie sieht zudem kein Bespucken des Publikums wie anno 1913 vor. Dafür muss man willens sein, quer durch Berlin, bis ins 35. Jahrhundert hinein zu reisen. Die Schwerkraft auszuhebeln, um dann mit Elementen des Musiktheaters jonglieren zu können, ohne dass gleich alles erdschwer zu Boden fällt, ist eine Spezialität von Novoflot spätestens seit den zehn Produktionen, die um Kommander Kobayashi kreisten. Nun werden fünf „Der Sieg der Sonne“-Module an verschiedenen Orten angeboten, einzunehmen in beliebiger Reihenfolge und Dosierung, ohne Beipackzettel. Dabei sind die Nebenwirkungen beträchtlich.

Station I führt in ein Seitengelass des Hamburger Bahnhofs. „Das Gehirn des Hauses“ soll hier zu finden sein. Jalousien öffnen und schließen sich wie von Geisterhand, ein weißes Klavier tönt, ohne dafür einen Spieler zu benötigen. Eine Sängerin versucht etwas Neues zu zimmern, was ihr durch ständig sich ändernde Videoanweisung unmöglich gemacht wird. Was bleibt, ist eine vage Erinnerung an das Treibhaus der Romantik durch Wagners „Träume“. Nach 35 Minuten biegt das fragile Forschen in eine Schleife ein.

Wer an Station II auf Mittel gegen das leichte Schwindelgefühl hofft, bekommt zu spüren, warum Schwerelosigkeit dem Menschen fremd bleiben muss. „Die gegenstandslose Welt“ herrscht in einer Ausstellungshalle unterm Dach der Akademie der Künste. Zunächst wird unter Harmoniumklängen die Abschaffung des Dogmas der Persönlichkeit gefordert. Dann pustet das Orchester gestaltlose Klänge in den Raum, während Senioren sich mühen, die entleerte Welt wieder einzurichten – mit Laternen, Gießkannen, Schallplatten. Vergeblich, die Abstraktion siegt in diesem leicht fahrigen Tranceerlebnis. Die weiteren Aussichten: Erwartungen werden zuschanden kommen. Man sollte sich warm anziehen. Zum Finale grüßen die Sänger der Zukunft. Und Vorsicht bei schwarzen Quadraten! Ulrich Amling

Station I., 15.–17.10., 14–18 Uhr, Hamburger Bahnhof. II., 16.10., 19 Uhr, 18./19.10., 18 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg. III., 15./16./18./ 19./20.10., 18–19.30 Uhr, Volksbühne Pavillon. IV., 16.10., 21.30 Uhr, 18./19.10., 20.30 Uhr, Radialsystem. V., 20.10., 20 Uhr, Volksbühne

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