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Kultur: Wehleidenschaft

Martin Walser hat „Messmers Reisen“ geschrieben – die Fortsetzung seines Erfolgsromans von 1985

Diesem Mann möchte man in seinen letzten Stunden keinen Trost zusprechen müssen. Es könnte einen leicht überfordern. Herbert Messmer, Martin Walsers Protagonist in seinem neuen Buch „Messmers Reisen“, ist sich nämlich sehr fremd. Sein Leben ist vollständig misslungen, jedoch nicht, weil sich seine Pläne als unerfüllbar erwiesen haben – sondern, weil er niemals welche besaß. Allein der Widerspruchsgeist trieb ihn voran: „Ich bin die Asche einer Glut, die ich nicht war.“

Messmer ist die wohl schwärzeste Gestalt in Walsers umfangreichem Buchuniversum. Auch seine anderen Figuren, all die Anselm Kristleins, Helmut Halms oder Gottlieb Zürns, sind keine Gewinnertypen. Die ehrgeizigen Kleinbürger leiden unter Minderwertigkeitskomplexen, wursteln sich in einer mitleidlosen Gesellschaft durch und entrichten voller Selbstverachtung den „Anpassungszehnten“. Aber ihre täglichen Leidenserfahrungen werden durch andere Figuren relativiert. Messmer dagegen ist mit sich allein. „Seit der Hund tot ist“, hat er keinen Freund mehr – außer dem Auto.

„Messmers Reisen“ ist eine Sammlung von Aphorismen, Reflexionen und Notizen, Sudelblättern, Skizzen und Szenen. Mal ist in ihnen von Messmer die Rede, dann von „ich“, „man“ oder „wir“. Doch alle Personen kennzeichnet der Wechsel zwischen griesgrämiger Misanthropie und unterwürfigem Werben um Anerkennung, zwischen aggressiver Wehleidigkeit und aggressionsgehemmter Wut auf alles und jeden. Es handelt sich immer um dieselbe Figur; der Wechsel der Personalpronomina zeigt nur, wie sehr sie sich bereits den Blicken anderer unterworfen hat.

Allerdings hat sich Messmer erstaunlich gut gehalten, schließlich stand es schon 1985 ähnlich verheerend um ihn. Damals erschienen „Messmers Gedanken“, und neue Ideen sind ihm seitdem nicht unbedingt gekommen: Der Tenor ist derselbe, eine Nietzsche-Lektüre scheint die Radikalität und die Empfindlichkeit in Fragen der Macht noch gesteigert zu haben. Zudem werden ein oder zwei Passagen fast wörtlich wiederholt, „Messmers Reisen“ erlaubt ein Déjà-vu mit einem alten Bekannten.

Allerdings erhält Messmer nun deutlichere Konturen: als Schriftsteller, der zu Lesungen fährt und Universitätsvorlesungen hält. Am stärksten unterscheidet sich der neue Band von dem alten durch eine Reise, die Messmer – wie sein Autor Walser in den Achtzigerjahren – als Gastprofessor in die USA führt. In diesem zweiten von drei Teilen des Buches treten an die Stelle des pointierten Selbstgesprächs längere, oft szenisch erzählte Erlebnisse. Trocken und zuweilen komisch schildert Messmer die Neue Welt als die Alte: Ein amerikanischer Professor warnt ihn vor einer dichtenden Kollegin, die jedem Neuankömmling ihre Gedichte aufdränge, aber er selbst hat als Erster die eigenen Poeme im Hotelzimmer des Gastes hinterlegt. Auch in den USA herrscht die Routine der Eitelkeiten, Aufschneidereien und Intrigen, auch dort besteht jede menschliche Begegnung aus Bluff und dem Kampf um Bewunderung.

„Messmers Reisen“ ist offenbar in den späten Achtzigerjahren entstanden; erwähnt werden Ronald Reagan, die DDR und die „deutsche Revolution“ von 1989. Warum legt Martin Walser das Buch erst jetzt vor? Hat ihn die Diskussion nach seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1998 dazu bewogen? Darin hatte Walser bekannt, bei der medialen „Dauerpräsentation unserer Schande“, der nationalsozialistischen Judenvernichtung, wegzuschauen. Auschwitz, so Walser, eigne sich nicht zur Instrumentalisierung als „Moralkeule“ und „Drohroutine“.

Auf die heftige Kritik bis zum Vorwurf des Antisemitismus hatte Walser damals geantwortet, er habe Selbsterkundung betrieben; einen Unterschied zwischen öffentlicher Rede und persönlicher Selbstbefragung mochte er nicht gelten lassen. Möglicherweise ist das alte Manuskript in jenen Monaten erneut wichtig für ihn geworden. Zwei Mal wendet sich jedenfalls auch Messmer gegen ein ritualisiertes öffentliches Gedenken: „Wer sich gegen Schuld nicht wehrt, empfindet sie nicht“, heißt es, und: „Schuldfähigkeit ist die höchste Fähigkeit, zu der ein Mensch sich entwickeln kann.“

Seine Erbarmungslosigkeit vernichtet Messmer übrigens nicht. Im Gegenteil: Weil er weiß, wie es um ihn steht, geht es ihm gar nicht so schlecht: Er besitzt den Trost der Wahrheit. Das ist der harte lutherische Kern des Buches. Tödlich wäre die Übereinstimmung mit sich, denn sie löscht jede Wahrnehmung aus. Wer aber mit sich im Unreinen ist, befindet sich in einem unaufhörlichen Gespräch. „Alles, was ich mir sagen kann, ist nichts gegen das, was ich mir nicht sagen kann.“

Martin Walser, Messmers Reisen. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2003. 192 S., 17,90 Euro

Jörg Plath

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