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Kultur: Wein, Weib, Kalbsbries

Linus Reichlins Afghanistan-Roman „Das Leuchten in der Ferne“.

Es wird viel gegessen in diesem Roman des Schweizer Schriftstellers Linus Reichlin, gerade zu Beginn. Spaghetti Carbonara gibt es bei der Frau, die Reichlins Held, der abgehalfterte Berliner Kriegsreporter Moritz Martens, auf dem Kreuzberger Bürgeramt kennengelernt hat, dazu einen „Riesling von Gaul“, was Martens zu der Überlegung führt: „Sie kauft zu Pasta Weißen, (...), und auch noch einen sehr guten, der etwas kostet.“ Danach braucht Martens „noch etwas wirklich Köstliches“. Also isst er in seinem Stamm-Gourmet-Restaurant noch „glaciertes Kalbsbries und Nierchen“.

Hier trifft Martens auch den Chefredakteur eines Nachrichtenmagazins, um den Auftrag für eine Geschichte zu bekommen: über eine in Afghanistan mit einer Taliban-Gruppe umherziehende „Bacha Posh“, wie Mädchen genannt werden, die in afghanischen Familien als Jungen aufwachsen. Die Geschichte hat Martens von seiner neuen, teuren Weißwein zu Pasta servierenden Bekannten Miriam Khalili, Tochter eines Afghanen, die ihn an den Hindukusch begleiten will, angeblich ist sie Fotografin. Als er den Auftrag bekommt, verabschiedet er sich noch von seiner Freundin Nina, natürlich auch bei einem Essen, es gibt Lachsfilets. Nur missglücken die ihm. So wie die Beziehung mit Nina keine Zukunft hat, kommt er nicht „in den Genuss, den er sich erhofft hatte."

Mit dem Genuss dieses Romans mit dem missverständlich poetischen Titel „Das Leuchten in der Ferne“ ist das auch so eine Sache. Man muss von Produktenttäuschung sprechen, was nur zum Teil mit dem kulinarischen Aufzäumen der Handlung zu tun hat. Ein Romanheld soll ja auch ein Leben haben, einen Charakter. Martens ist also nicht nur Feinschmecker, sondern traumatisiert von Einsätzen in Ruanda, Irak, Bosnien, „zuletzt dreimal in Afghanistan.“ Häufig kommen ihm Schreckensbilder vor Augen, nur leidet darunter nicht seine Reporterleidenschaft, seine Lust auf das Ungewisse.

Der gelernte Reporter und bislang als ambitionierter Krimischriftsteller hervorgetretene Linus Reichlin hat für seinen Helden tief in die Klischeekiste gegriffen: kaputt, über die Mittellebenskrise fast hinweg, trotzdem voller Tatendrang, bereit für neue Lieben. Und nun stellt Martens in Afghanistan fest, dass Khalili keine Fotografin ist, sondern seine Hilfe braucht, ihren Exmann aus den Fängen der Taliban zu befreien. Was ihm trotzdem recht ist, denn „in Miriams Küsse konnte er sich hineinversetzen, er wusste, was ihre Lippen als Nächstes tun würden.“ Eine Liebesgeschichte in Afghanistan, mit Bundeswehrlagern und atemberaubend schöner Berglandschaft als Kulisse – nach dem Essensintro ist das die nächste Etappe dieses Romans. Linus Reichlin macht kaum Anstalten, hinter diesen komplizierten Krieg und die schwierige Rolle der Bundeswehr zu kommen. Der „Spiegel“-Journalist und Schriftsteller Dirk Kurbjuweit bemühte sich da seinerzeit viel mehr. Kurbjuweit wusste in seinem Afghanistan-Roman „Kriegsbraut“ (2011) die Zerrissenheit seiner weiblichen Hauptfigur, einer Bundeswehrsoldatin, zwischen deutscher Alltags- und afghanischer Kriegsrealität deutlich besser, nachdrücklicher darzustellen. Ohne eine verschmockt-absurde Liebesgeschichte kam aber auch er nicht aus.

Immerhin bugsiert Reichlin Martens und Khalili als Nächstes aus der Sicherheit der Bundeswehr in die gefährliche und archaische Lebenswelt einer Gruppe von Taliban. Hier gelingen ihm die überzeugendsten Passagen seines Romans, gerade als Martens allein bei der Gruppe zurückbleibt. Hart auf hart geht es auf einmal zu, schmucklos, auch stilistisch, und man hat den Eindruck, dass Reichlin selbst noch über die psychische Dynamik in einer Taliban-Gruppe bestens Bescheid weiß, über deren Machtkämpfe, ganz zu schweigen von ihren Schlaf-, Spiel- und natürlich Essgewohnheiten.

Man mag dann gar an eine gewisse innere Einkehr des Helden glauben, an eine späte Erziehung – wären da nicht weiter die Träume von zum Beispiel einem „schweren, blumigen Chardonnay im Eiskübel“. Wären da nicht großartige, neu gewonnene Fähigkeiten wie „im Gehen zu onanieren, ohne dass die anderen es merkten“. Oder die Freude darüber, nach vier Monaten Gehungere beim Pinkeln den Penis wieder sehen zu können.

„Das Leuchten in der Ferne“ ist ein disparater, sich um Figuren- und Handlungsplausibilität wenig scherender Roman, der viel von einer Männerphantasie hat, eine Mischung aus Abenteuer-, Liebes-, Kriegsgeschichte. Der gebrochene Held bekommt seine Gebrochenheiten jedenfalls stets gut zusammen. Das schöne Leben in der bundesrepublikanischen Komfortzone dürfte diesen Moritz Martens nach seinem Taliban-Abenteuer schnell wieder einholen. Hauptsache Wein, Weib, Kalbsbries. Gerrit Bartels

Linus Reichlin:

Das Leuchten in der Ferne. Roman.

Galiani, Berlin 2013.

300 Seiten, 19,90 €.

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