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Dichter und Kalligraf. Ouyang Jianghe, 1956 in der Provinz Sichuan geboren.

© xichuanpoetry.com

Weltliteratur aus China: Ein Gesang über Ruinen

Ein Jahrhundertpoem aus China: Ouyang Jianghes Langgedicht „Der Doppelphönix“ nimmt sich der konsumistischen Verheerungen im 21. Jahrhundert an.

Von Gregor Dotzauer

Der Ruf eines Jahrhundertpoems eilt diesen 19 nummerierten Strophen des Pekinger Dichters Ouyang Jianghe voraus. Was T. S. Eliots „Waste Land“ für das 20. Jahrhundert war, könnte sein „Phönix“ für das 21. Jahrhundert werden, heißt es. Eine Bestandsaufnahme des finanzkapitalistischen Irrsinns, der Menschen und Traditionen unter sich begräbt. Eine Inspektion der Ruinen, die eine wild gewordene Moderne hinterlässt, während rundherum Wohn- und Büromaschinen in den Himmel wachsen. Und ein Lobpreis der künstlerischen Imagination, die sich gegen ihre Austreibung durch den reinen Konsum über Schutt und Asche erhebt.

Ouyangs „Phönix“ ist Gesang und Abgesang in einem, und wie in seiner sonstigen Dichtung mischt sich auch hier eine tiefe Verankerung in der tangzeitlichen Blüte der chinesischen Lyrik mit einer vorzüglichen Kenntnis der westlichen Moderne – und einer besonderen Bewunderung für die deutsche Kultur. Die paradoxen Denkstrukturen der daoistischen Meister sind ihm so geläufig wie die Rätselbilder von Saint-John Perse, die intellektuellen Topografien von Ezra Pound so nah wie die supreme fiction von Wallace Stevens. Das alles ist keine papierene Erfahrung geblieben. Vier Jahre verbrachte er Anfang der Neunziger in den USA, anschließend eines in Stuttgart auf Schloss Solitude, wo er eine besondere Passion für Hölderlin entwickelte.

Sein Rang als einer der fünf „Meister von Sichuan“, die den Hermetismus von Bei Dao und Yang Lian beerbten, ist unbestritten – wobei er sich bis zur Niederschrift des „Phönix“ 2010, der Xu Bings gleichnamige, zuletzt auf der Biennale von Venedig zu sehende Installation begleitet, eine lange Pause eingelegt hatte. Bis heute verdient er sein Geld vor allem als ein bei Sammlern hochbegehrter Kalligraf, der ein auskömmliches Leben im Pekinger Chaoyang District gefunden hat.

Austin Woerners englische Übertragung hat dem Ruf des „Phoenix“ als Jahrhundertpoem einen eindrucksvollen Nachhall gegeben. Wolfgang Kubins deutscher „Doppelphönix“ aber leistet sich Umständlichkeiten und Unverständlichkeiten, die sich durch die Dunkelheiten des Gedichts allein nicht erklären lassen. Was bei Woerner klar, knapp und rhythmisch straff klingt, quillt bei Kubin, der als hochverdienter Vermittler zeitgenössischer chinesischer Lyrik fast ein Monopol besitzt, immer wieder in Nebensatzkonstruktionen auf und gerät durchweg mindestens ein Drittel länger.

Die bildliche Inspiration. Einer von zwei jeweils sechs Tonnen wiegenden Himmelsvögeln, die Xu Bing ursprünglich für den Chinese Business District in Peking gestalten wollte. Dieser "Phoenix" hängt von der New Yorker Kathedrale St. John the Divine, wo er 2014 zu sehen war.
Die bildliche Inspiration. Einer von zwei jeweils sechs Tonnen wiegenden Himmelsvögeln, die Xu Bing ursprünglich für den Chinese Business District in Peking gestalten wollte. Dieser "Phoenix" hängt von der New Yorker Kathedrale St. John the Divine, wo er 2014 zu sehen war.

© Andrew Burton/Getty/AFP

Als Beispiel der Anfang von Strophe sechs. Bei Kubin lautet er: "All diese Arbeiter, die nächtens heimkehren, / sie stürzen über Belege und Fahrscheine, sie schlafen tief ein. / Bauherren und Mietnehmer sehen einander nie. / Und die Grundstücksmakler stehen in der Tiefe der Gestirne, / sie drücken Sterne aus wie Kippen, sie atmen Sternenstaub, / sie atmen Kracher, vom Erdfeuer entfacht. / Und dann, dann spucken sie elegant Stempelgebühren. / Das Gesicht der Finanzen fällt wie Schnee, und der Schnee, abgetreten, gleicht einem Gesicht in der Sonne, / mählich schmelzend, mählich sich formend zur Vogelspur." Wie viel prägnanter, einleuchtender und in der wechselseitigen Durchdringung der Bildbereiche sinnlicher und sinnhafter klingt dies bei Woerner: "Workers go home and fall / fast asleep among receipts and ticket stubs. / Builders and tenants never meet. / Real estate moguls stand in the sky, / extinguishing stars like cigarette butts. / Masters of astropiration, they breathe in / booming phosphorescent flowers / and blow money-laundering rings. / The face of finance blankets the earth, / melting underfoot like sunlit features / into birdprints."

Übersetzungskritik ohne Kenntnis der Ausgangssprache ist immer eine heikle Sache. Doch schon die Wortwahl im Deutschen ist problematisch. Warum nicht "nachts" statt "nächtens", "Mieter" statt "Mietnehmer" und wozu das altmodische "mählich"? Was bedeutet es, Stempelgebühren zu spucken? Was soll man sich unter einem wie Schnee fallenden Gesicht der Finanzen vorstellen? Erst der Blick in die englische Version gibt darüber Aufschluss. Das "receipt" (Quittung) erschließt sich schneller als der "Beleg", und der "stub" des Tickets, der Abriss, ist sehr viel nachvollziehbarer als der reine "Fahrschein".

Kubin, der wie Woerner den Autor konsultieren und ihm viele neue Hinweise auf Anspielungen und Zitate entlocken konnte, darunter solche auf Marx, Beethoven und Richard Strauss, nennt den „Doppelphönix“ einen „Höllentext“ für Übersetzer. Tatsächlich gibt es - auch Woerner berichtet davon in seinem Vorwort - nur schwer erkämpfte Lösungen, die Ouyangs Metaphernketten zwangsläufig Gewalt antun müssen - weit über die Herausforderung einer nicht flektierenden Sprache hinaus. Eine Entscheidung liegt schon darin, dass Kubin den "Fenghuang", den Phönix des Titels als männliches (feng) und weibliches (huang) Paar betrachtet und zum "Doppelphönix" erklärt hat.

Leider ist Kubins Hölle auch ein Fegefeuer für den willigsten Leser. Woerners Version mag glatter und weniger wörtlich sein, aber sie gewinnt in der Zielsprache eine eigene Schlüssigkeit. Dennoch: Man lese beide nebeneinander, und man beginnt zu ahnen, welche visionäre Kraft Dichtung heute entfalten kann.

Ouyang Jianghe: Der Doppelphönix. Ein Langgedicht sowie andere längere Poeme. Aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin. Zweisprachige Ausgabe. Lychatz Verlag, Leipzig 2015. 123 Seiten, 22,95 €.

Phoenix. A poem by Ouyang Jianghe. Inspired by Xu Bing. Translated by Austin Woerner. Bilingual Chinese/English. With over 20 full-color photos of Xu Bing’s “Phoenix”. Zephyr Press, Brookline/Massachusetts 2014. 64 pages, 15 USD. www.zephyrpress.org

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