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Kultur: Wem die Zukunft gehört

Auf den Straßen von Paris: Die jetzige Jugendrevolte protestiert auch gegen die Ideale der Studentenbewegung

Eigentlich hatte ich an der Sorbonne zu tun. Eine kleine Konferenz sollte in ihren Mauern stattfinden: über Freiheit und Notwendigkeit. Aber die Tore der Pariser Universität sind in diesen Tagen fest geschlossen und ihre Mauern umgürtet von einem breiten Polizei-Kordon. Man will die Studenten draußen halten – und sie sind auch draußen, sichtbar, hörbar, fühlbar. Am Donnerstag demonstrierten 250 000 auf Frankreichs Straßen, im Pariser Quartier Latin waren es Zehntausende, von denen sich etliche mit der Polizei Straßenschlachten lieferten. Mehr als 20 Universitäten sind landesweit mittlerweile blockiert, heute wollen eine Million Studenten auf die Straße gehen.

Sichtbar: Sie wälzen sich über die Boulevards wie eine Lavamasse. Hier ist eine ganze Generation physisch präsent. Der Autoverkehr steht still. Hörbar: Sie johlen, gröhlen, trommeln, trillern und skandieren, dass die Wände wackeln. Fühlbar: Das Gedränge ist so stark, dass die Großmütter unter den Demonstranten – ich bin nicht die einzige, so manche alte Lehrerin wandert hier mit – aufpassen müssen, dass sie auf den Füßen bleiben.

Die kleine Konferenz ist in ein Gymnasium ausgelagert. Aber wer wollte nicht lieber auf der Straße Anteil nehmen an einem epochalen Geschehen, statt in einer engen Schule auf dem Stuhl still zu sitzen! Denn um ein epochales Geschehen handelt es sich offenbar. Der bescheidene Anlass, die Arbeitsmarktreform, kann diese Massenerhebung kaum rechtfertigen. Zwar werden ständig die Buchstaben CPE skandiert, die das Gesetz bezeichnen, gegen das hier protestiert wird. Contrat premier embauche: Junge Leute unter 26 erhalten bei ihrem ersten Anstellungsvertrag keinen Kündigungsschutz, den Arbeitgebern erlaubt dies ein beliebiges hire and fire. Aber wird dieser Nachteil nicht durch die Tatsache ausgeglichen, dass die Arbeitgeber unter dieser Bedingung viel eher bereit sind, junge Leute einzustellen – und diese sich locker in verschiedenen Berufssparten umschauen können?

Das ist hier, auf der Straße, nicht mehr die Frage. In Paris wird vielmehr eine fast abstrakte résistance praktiziert, immer wieder skandieren die Demonstranten das Wort. Wenn auch mit bedecktem Busen, wenn auch mit einem Mikrofon statt einer Fahnenstange in der Hand, steht eine veritable Marianne auf dem Lastwagen, der an der Spitze des Zuges fährt, und peitscht die Slogans ein. Frankreich ist wieder bei sich selbst, mit oder ohne CPE.

Wieder einmal zeigt sich in Paris die Morgenröte einer Revolution, die mehr bewirken will als die Wiederherstellung des Kündigungsschutzes. Die unsichtbare Fackel, die hier getragen wird, kündigt eine Umwälzung an, die in der gesamten westlichen Welt überfällig ist: die Umwälzung der Generationen.

Viel zu lange schon bestimmen wir Alten das Geschehen. Viel zu lange schon halten wir die Stellen besetzt, nehmen wir der Jugend die Chancen, die sie braucht, damit ihre Kräfte nicht in Autoaggression umschlagen. Wir Alten müssen den Jungen endlich Platz machen, auch das sagen die Pariser Demonstrationen. Wir sollten nicht zugunsten unserer Renten länger arbeiten, sondern kürzer, zugunsten der Jungen. Wir sollten ihnen in jeder Hinsicht, auch räumlich, Platz machen, damit sie ihre Nester bauen können. In unsere Gärten gehören Kinder. Die niedrige Geburtenrate zeigt, dass diejenigen, die im fortpflanzungsfähigen Alter sind, nicht genug ermutigt und nicht genügend praktisch unterstützt werden. Niemand sieht in ihnen die Zukunft.

Sie müssen sehen, wie sie klarkommen; sie werden marginalisiert. Nur scheinbar werden die Jungen von der Wirtschaft umworben: als Konsumenten. Solange und soweit sie am Wohlstand von Vater und Mutter Anteil haben, sind sie tatsächlich verwöhnt; sowie sie sich aber aus dieser Versorgung herauslösen, droht ihnen die Armut. Ihre Abbilder, mehr oder weniger bekleidet, von vorne und von hinten, dominieren von den Plakatwänden herab zwar das Pariser Stadtbild. Ihre Schönheit macht man sich gerne zunutze; in Wirklichkeit aber sind die Jungen eine diskriminierte Minderheit. Ein solcher Zustand ist seiner Natur nach vergänglich, er kann kein Dauerzustand sein, und jetzt löst er sich auf.

Wir alten Linken meinen ja, dass wir die Fachleute für Widerstand und Aufruhr sind, und leiten daraus eine frivole Überlegenheit gegenüber den Jungen ab. Tatsächlich ist unsere Bilanz bescheiden. Wir müssen den Jungen gegenüber endlich zugeben, dass wir Studentenbewegten damals auf dem Holzweg waren und ihnen nichts voraus haben. Die Kräfte unserer besten Jahre haben wir in einen Impuls gegeben, der ein Schuss in den Ofen war. Die jetzige Revolte hat, im Unterschied zu unserem absurden Versuch, die Vorhut der Arbeiterklasse zu sein, Hand und Fuß. Diese Jugend tritt für sich selbst ein.

Lauscht man den Slogans, so hört man immer wieder einen Begriff heraus, gegen den sich der Protest richtet: „précarité“. Die résistance richtet sich gegen das „Prekäre“, gegen das Unsichere und Gefährliche. Wie anders, wie sicher war doch damals unsere Lage! Wollten wir doch unbedingt prekäre Situationen schaffen, wollten wir doch die falschen Sicherheiten der Gesellschaft aufkündigen! Diese jungen Menschen haben Angst und geben das auch zu. Sie wollen die Gesellschaft nicht sprengen, sondern sich mitten in sie hineinbegeben, um dort Schutz und Geborgenheit zu finden. Wie legitim!

Die Reichweite dieser französischen Revolte wird davon abhängen, ob sie mit dem Aufruhr in den Banlieues verschmilzt. Das zeichnet sich ab. Die grauhaarige Dame, die neben mir im Takt der Trommeln marschiert, ist Lehrerin in einer der Vorstädte, und wir marschieren inmitten ihrer Schüler. Um uns herum gibt es viele leuchtende schwarze Gesichter. Die Lehrerin zeigt auf zwei Mädchen, die tanzen und hopsen und ihre vielen kleinen Zöpfe schütteln. „Sie sind meine besten Schülerinnen! Sie brauchen eine Chance“, sagt sie.

Sibylle Tönnies

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