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Kultur: Wendepunkt

50 Jahre Eichmann-Prozess: eine Berliner Diskussion.

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft hat lange gebraucht, um sich ihrer NS-Vergangenheit zu stellen. Aber auch in Israel stieß die Judenvernichtung in Europa viele Jahre lang auf wenig öffentliches Interesse. Die Siedler des Jishuv hatten 1948 ihren Staat erkämpft, sie standen für Stärke. Die aus Europa ankommenden Überlebenden des Holocaust passten nicht in dieses Selbstbild, ihre Schicksale wurden lange ignoriert. Erst beim medienwirksam inszenierten Prozess gegen Adolf Eichmann, der 1961 nach seiner Entführung aus Argentinien in Israel vor Gericht stand, schilderten Überlebende erstmals auf großer Bühne, wie sie die menschenfeindlichsten Bedingungen überlebt hatten. „Das hat die Sichtweise beider Gruppen der Gesellschaft aufeinander verändert“, sagt der israelische Staatsminister Yossi Peled, der vor dem 50. Jahrestag der Eichmann-Hinrichtung am 31. Mai 1962 an einer Gedenkfeier im Haus der Wannsee-Konferenz und einer Diskussion der Stiftung Topographie des Terrors teilnahm. Der Eichmann-Prozess war identitätsstiftend für die junge, zusammengewürfelte israelische Gesellschaft.

Doch was bedeutete er für die zweite Generation, was bedeutet er bis heute? Die israelische Professorin Dalia Ofer sieht mit dem Prozess den Beginn eines offiziellen, „nationalisierten Schoah-Diskurses“, der die Angst wach hält und die Bürger daran erinnert, immer „auf der Hut zu sein“. Doch die Kinder von Holocaust-Überlebenden kannten eine private Seite: Sie erlebten die Albträume der Eltern, das Fehlen einer Großfamilie, das persönliche Leid. „Nicht umsonst wurden viele von ihnen Künstler, die das Trauma und die verlorene Kindheit künstlerisch aufarbeiteten.“

Der Eichmann-Prozess hatte auch in Deutschland große Wirkung. Wolfgang Benz, bis 2011 Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, erinnert daran, dass er das „Renommee Israels als Rechtsstaat ungeheuerlich gestärkt hat“. Gleichzeitig habe er den Boden für die Erinnerungskultur in Deutschland und auch die Auschwitz-Prozesse bereitet. Die Nürnberger Prozesse der Alliierten seien ohne Opferaussagen zu abstrakt gewesen. Außerdem habe es vielleicht auch ein „Zuviel der Erziehungsanstrengung der Amerikaner“ gegeben.

Während israelische Kritiker fordern, ihr Land müsse sich aus dem institutionalisierten Opfer- und Angstdiskurs lösen, um politisch rational handeln zu können, scheint in Deutschland die Erinnerung verblichen: In einer Forsa-Umfrage für den „Stern“ sagen 60 Prozent der Befragten, Deutschland habe wegen seiner NSVergangenheit keine besondere Verpflichtung gegenüber Israel. Andrea Nüsse

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