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Kultur: Wenn alles vertan ist

Falk Richter inszeniert „Drei Schwestern“ an der Berliner Schaubühne

Glaube, Liebe, Hoffnung. Schon Anton Tschechow lebte in säkularer Zeit, der Religion begegnet man nur gelegentlich in den Erzählungen. Und an der Abschaffung der Liebe wird im Werk des 1904 gestorbenen Russen, dem sich das deutschsprachige Theater verwandt fühlt wie kaum einem anderen Dramatiker, heftig gearbeitet. Liebesglück gibt es bei Tschechow nicht, immer nur ein kurzes, bebendes Davor – und ein langes, quälendes Danach. Bliebe die Hoffnung. Sie ist in den neuen „Drei Schwestern“ der Schaubühne durch eine andere Chimäre ersetzt: Arbeit.

Olga, Mascha, Irina. Die Prosorows verzehren sich nicht mehr „nach Moskau“. Regisseur Falk Richter hat in seiner Textfassung (nach der Übersetzung von Ulrike Zemme) den berühmten Stoßseufzer stark relativiert: „Also gut, meinetwegen auch nach Moskau“, heißt es einmal. Als einzige halbwegs realistische Fluchtmöglichkeit bietet sich ihnen – Alkohol und Glücksspiel sind für die Männer reserviert – tatsächlich nur die Arbeit an.

Eine Falle. Falk Richter hilft Tschechow nach und erzählt das Drama des begabten Lehrers. Olga wird am Ende zur Schulleiterin aufgestiegen sein, Irina nimmt anderswo einen Lehrerjob an, Maschas Gatte Kulygin (Thomas Bading) nervt die Gesellschaft mit lateinischen Konjugationen und dem ut consecutivum. Bruder Andrej sitzt seine Tage in der Stadtverwaltung ab, Irina quält sich zwischendurch in der Arbeitsvermittlung herum. Tschechow als Milieustudie aus dem öffentlichen Dienst. Damit ist die Hoffnungsstrecke auch schon abgeschritten. Kopfschmerz, Ekel, Erschöpfung. Burn-out. Das ist das Los der Schaubühnen-Lehrerin, und leider ist auch der dreistündige Abend lange vor der Zeit ausgebrannt.

Da stehen sie im Schlussbild auf spiegelglatter Fläche (Bühne: Katrin Hoffmann), erdrückt vom eigenen, überlebensgroßen Schatten, Flugzeuggeräusche – woher, wozu ? – donnern durch den leeren Raum, Zusammenbrüche, Abschiede, verzweifelte Schreie reihen sich aneinander, als wollte man nur schnell ein Ende machen.

Der Atem der Inszenierung reicht für eine gute Stunde. Richters Intro, nahezu klassisch: In ihren Sesseln versunken schmoren die drei Generalstöchter – das Panorama der sich schon allzu klar abzeichnenden Ausweglosigkeit nimmt die volle Bühnenbreite ein. Die Schwestern wirken gleichaltrig, bereits um die Vierzig, und manchmal hat es den Anschein, als sehe man drei Gesichter ein- und derselben Frau. Steffi Kühnert (Olga), die Patente, Geerdete; Jule Böwe (Irina), die Temperamentvolle, Trotzige; Bibiana Beglau (Mascha), die Dunkle, Feine, Leidende. Um sie herum auffällig jüngere Männer wie Eintagsfliegen, Notlösungen: Clemens Schick als abwesend wirkender Oberstleutnant Werschinin, Stipe Erceg als verträumter Baron Tusenbach. Schwache Männer, kaum des Leidens fähig. Ein altes Problem der neueren Schaubühne. Sagen wir es positiv: Die Frauen haben die Kraft und den Mut, in den Abgrund zu schauen.

Typisch für das Haus auch wieder diese Kälte (Irina bekommt zum Geburtstag eine Tiefkühltruhe geschenkt, wie passend!) und das gestylte Halbdunkel, in dem nur die Chromteile der Sitzgelegenheiten blitzen. Thomas Ostermeier zieht solche Stücke härter durch, Luk Perceval hat einen gewissen Hang zur Mystik, Falk Richter ist von den festen Regisseuren des Hauses der psychologischste. Kurioserweise scheinen sie sich auch die Gesellschaft aufgeteilt zu haben: Für die Oberschicht (und die Parvenüs) ist Ostermeier, für die Unterschicht Perceval und für den verlorenen Mittelstand Falk Richter zuständig. Und, auch das ist seltsam, die Rollen der Alten (hier Lore Stefaneks Kinderfrau Anfissa oder Erhard Marggrafs Amtsdiener Ferapont) werden von allen drei Regisseuren gleichermaßen solide, ja konventionell angelegt.

Zwei Ausreißerinnen gibt es, da wird man neugierig. Die eine ist Natascha, Schwägerin der Schwestern, verheiratet mit dem armen Würstchen Andrej (Robert Beyer). Lea Draeger spielt, mit kreischendem Sopran, eine bösartige, gefühlskalte, egozentrische Zicke. Ihr Repertoire ist so schmal wie gemein, sie ist mit Abstand die Jüngste, ihr gehört die Zukunft, nicht nur im Hause Prosorow.

Die Rebellion gegen das Tschechow’sche Gleichmaß von Zeit und Leid (nur bei Beckett findet sich das wieder) vollzieht sich bei Natascha schrill – bei Mascha dunkel und still. Wie Bibiana Beglau letzte Willenskraft aufbietet, um sich in den sportlichen Werschinin zu verlieben; wie sie sich windet, wie sie, stolz und unheilvoll, davongeht, das hat Größe. Durch ihre Figur begreift man, dass sich Leid nicht aktualisieren lässt – und auch nicht historisieren, so wie einst, vor einem Vierteljahrhundert, in Peter Steins legendären „Drei Schwestern“.

Tschechow an der Schaubühne, das ist immer etwas Besonderes. Doch nicht die Last der Tradition drückt auf die Arbeit von Falk Richter, sondern eine eigene, zähe Melancholie. In seiner „Möwe“ vor ein paar Jahren war davon noch nichts zu spüren. „Mein Gott“, sagt Olga, „die Zeit vergeht, eines Tages werden auch wir für immer gehen, und nichts wird von uns übrig bleiben, man wird uns vergessen, unsere Gesichter, unsere Stimmen . . .“

Schon beim Schlussapplaus geht das los, das Vergessen, und setzt sich auf dem Ku’damm fort, über den plötzlich der Winter hereingebrochen ist. Die Liebe zum Theater ist da, auch der Glaube – aber die Hoffnung stirbt immer so schnell.

Wieder heute und morgen sowie vom 21. bis 23. November.

Rüdiger Schaper

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