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Kultur: Wenn der Sand durch Canetti rieselt

Im Urlaub gewesen, gelesen. Beschreibung eines Selbstversuchs

Jedes Mal das gleiche Spiel: Sobald das Eis des Winters schmilzt und die Tage länger werden, beginne ich mit den Vorbereitungen für den Sommerurlaub. Nein, ich gehöre nicht zu den Menschen, die in den kostbarsten Wochen des Jahres Unerhörtes erleben wollen: Mein Hang gilt weder dem Wildwasserkajakfahren noch dem Tiefseetauchen noch dem Erklimmen gefährlicher Berge; ich habe keinerlei Interesse, meinen Körper mit ganzheitlichen Ayurvedabehandlungen auf Vordermann zu bringen oder in der Toskana dumpfbraune Töpferarbeiten zu fertigen. Ich fahre in die Ferien, um zu lesen und binnen zwei Wochen in die tröstliche Welt erfundener Biografien einzutauchen.

Sind nicht jene Werke der Weltliteratur unvergesslich, die man in außergewöhnlichen Urlaubsstunden aufsog? Adalbert Stifters „Witiko“ zum Beispiel, diesen sehr opulenten, sehr handlungsarmen Mittelalterroman, der an Langatmigkeit kaum zu überbieten ist und Stifters „Nachsommer“ als Actionthriller erscheinen lässt, las ich einst beim Campen in der Bretagne. Die Witterung war ungastlich; der Zeltplatzladen bot Rotweinverschnitt aus „verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft“ an, ich saß auf meinem Stühlchen unterm tropfenden Zeltdach und hörte nicht eher auf, bis ich zu den wenigen Menschen gehörte, die „Witiko“ ganz gelesen haben. Oder Elias Canettis „Blendung“, der seinerzeit mit nach Kreta durfte und aus dessen Seiten noch heute der Sand von Matala rieselt. Kostbare Erinnerungen blitzen auf, sobald ich das dickleibige Taschenbuch in die Hand nehme – daran, wie ich gleich am ersten Urlaubstag in einen Seeigel trat, was mich, bis die Dialogführung mit dem griechischen Landarzt klappte, wertvolle Stunden des Lesens kostete ...

Mittlerweile bin ich ein routinierter Lektüreurlauber. Das mitzuführende Gepäck wird, wiewohl sich deshalb Diskussionen mit der Gattin nicht vermeiden lassen, auf das Nötigste beschränkt. Kleidungsstücke werden streng selektiert, da wir ohnehin davon Abstand nehmen, noble Restaurants (alles Nepp!) oder Festspielhäuser aufzusuchen, genügen wenige Polohemden und bunte Shorts (hier kennt mich ja keiner!) – schließlich brauche ich den Stauraum im Wagen für Bücher. Nichts schlimmer, als sich vorzustellen, romanlos auf eine Almwiese oder ein Korallenriff zu starren.

Seit langem bin ich dazu übergegangen, Urlaubsziele nach ihrer Spannungslosigkeit auszuwählen. Nur wenn äußere Einflüsse gering gehalten werden, ist eine völlige Konzentration auf das zu Lesende möglich. Deshalb ging es dieses Jahr nach Dänemark, genauer: Nordjütland: ein sanft ins Grün eingebettetes Ferienhaus in ruhiger Lage, fünf Kilometer von der nächsten Zusammenrottung menschlichen Lebens entfernt und keinerlei Aufregung verheißend. Natürlich dauert es zwei, drei Tage, bis die ersehnte Kargheit des Daseins eintritt, jene wunderbare Monotonie, die vom Frühstück bis zum Abendessen reicht und allein aus vorhersehbaren Handlungen besteht.

Nicht immer habe ich – ein Grundfehler der irdischen Existenz – alles im Griff. So verlor ich, ein ungestümer Kämpfer mit den tosenden Wellen, meine Brille (nein, nicht die Lesebrille!) und fand sie nicht wieder. Durch dieses Ereignis gerieten meine Emotionen in Wallung, was der Muße für Fiktives nicht förderlich ist. Zum weiteren Störfaktor geriet das Beäugen des Hauses schräg gegenüber, dessen Atriumtüre tagelang offen stand und meine durch Kriminalromane ausgeprägte Fantasie zu Mutmaßungen über etwaige Gewaltverbrechen inspirierte: Welches Unglück mag die belgische Familie ereilt haben? Wurden ihre Körper nächtens aufs Gröbste zerstückelt? Und wo ist der alte Volvo geblieben? Das beschäftigt einen, wenn ansonsten das Flügelschlagen eines Schmetterlings den Spannungshöhepunkt des Tages bildet.

Halten Sie mich nicht für einen Menschenfeind, obwohl ich Sozialkontakte im Urlaub gemeinhin scharf ablehne. Ich möchte keine nette Familie aus Wuppertal kennen lernen, Telefonnummern austauschen und gegenseitige Besuche („Wenn Sie mal in der Gegend sind ...“) vereinbaren. Kommunikation pflege ich nur mit der Supermarktverkäuferin – und selbstverständlich mit meiner Gemahlin und unserem Kind, das allerdings noch nicht druckreif spricht. Die Frau kennt mich schon länger und hat sich deshalb an meine Eigenheiten gewöhnt. Mit ihr sprach ich jeden Tag mehrere Minuten, und wenn sie das Bedürfnis ereilte, in der dänischen Heide auszuschreiten, tat ich glaubhaft so, als sei mir diese Entfernung vom Lesesofa ein echtes Bedürfnis.

Und nicht zu vergessen das kommunikationsfördernde Grillen! Da gibt es einiges zu bedenken: Welche Anzünder nehmen wir? Wann dürfen die so lustig rot eingefärbten dänischen Würste auf den Rost? Warum glühen die Kohlen nicht richtig durch? Ist das Fleisch noch blutig? Bei uns daheim hat das viel besser geklappt ... du lässt dir aber auch gar nichts sagen ... das ganze Haus riecht schon nach diesen chemisch ekligen Anzündern ... willst du das Kind vergiften ... du musst nur kräftig blasen ... ist das Essen jetzt endlich fertig? Wie soll man bei derartigem Wortwechsel zum entspannten Lesen kommen?

Irgendwann wurde nicht mehr gegrillt, und ich fand endlich Zeit für all die feinen Romane aus dem großen Koffer. Der Blick auf das Gesträuch und das abwechslungsreiche Wellenspiel lenkten kaum mehr ab, und so las ich dänische Romane von Morten Ramsland („Hundsköpfe“) und Kristian Jensen („Leibspeise“), ließ mich von Thomas Hettche („Woraus wir gemacht sind“) ins texanische Marfa, von Walter Kempowski („Alles umsonst“) ins Ostpreußen des Winters 1945 und von Hallgrímur Helgason („Rokland“) ins abenteuerliche Island entführen, wo es, wie in Dänemark, viel Salzwasser gibt und eine Romanfigur den absolut zutreffenden Satz äußert: „Das Meer macht große Probleme kleiner.“

So wurde ich von Tag zu Tag milder. Schon kleinste Anstrengungen – das morgendliche Bad in den Fluten (immer auf der Suche nach der Brille), das Nachschenken des Weines – drohten mich zu überfordern. Ich wollte nicht mehr vom Leben, als in fremde Bücherwelten einzudringen, Seite um Seite verschlingen und mitunter mit schläfriger Trägheit den Blick anheben, um nach den belgischen Mordopfern von gegenüber zu sehen.

In kluger Dosierung hatte ich mir das beste Buch für den Schluss aufgehoben, den grandiosen Roman „Die See“ des Iren John Banville. Von einer Strandpension handelt dieser, von Erinnerungen an Sommerfrischen, wie es sie früher gab, von ersten Liebesregungen, und obwohl es darin nicht zuletzt um Krankheit und Tod geht, strahlt das Buch Ruhe und Gleichmut aus – ganz wie es ein gelassener und gleichmütiger Leser in einem abgeschiedenen dänischen Gartenstuhl verdient hat.

Nächstes Jahr werde ich mein System perfektionieren und die Fadheit des Urlaubsziels steigern. Wäre es nicht schön, sich auf der dänischen Hallig Mandø einzuquartieren? 7,5 Quadratkilometer groß ist dieses Eiland und nach letzter Zählung von 56 Einwohnern (mit absteigender Tendenz) bevölkert. Die Anreise erfolgt in Wagen, die von einem Traktor durchs Watt gezogen werden – wenn das keine Aussichten sind!

Der Autor leitet das Literaturhaus Hamburg.

Rainer Moritz

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