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Kultur: Wenn Russlands Seele vom Striptease träumt

"Nach Moskau! Nach Moskau!

"Nach Moskau! Nach Moskau!", hieß vor hundert Jahren die Devise in Tschechows "Drei Schwestern". Olga, Mascha und Irina sehnten sich aus der russischen Provinz zurück in die Stadt ihrer glücklichen Kindheit, in die Kulturmetropole ihres Landes. Heute, ein Jahrhundert später, heißt das Wunschziel, von dem man in Russland träumt, anders: Nach Singapur zieht es Olga, Nina und Tamara, drei Ehefrauen aus Kursk, in Alexander Galins "Casting". Dort, im südostasiatischen Umschlagplatz des großen Kapitals, hoffen die mittellosen Frauen arbeitsloser Männer auf Verdienstmöglichkeiten in einem Gewerbe, das seine Manager beschönigend "Unterhaltungsindustrie" nennen.

Galin, 1947 in eben jenem Kursk geboren, in dem dieses Stück spielt, hat es im Original "Konkurs" betitelt - eine Komödie, die freilich zu einem eher traurigen als lustigen Befund gelangt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist auch das neue Russland noch in desolater Situation; es herrscht Not aller Art, ökonomisch, sozial, mental. Gegen den Verkauf der russischen Seele - und mehr - protestiert einer der Ehemänner jener drei Frauen in einer Resolution, die er allen Ernstes verliest: "Ich, Boris Alexandrowitsch Karnauchow, bin gegen die Verwandlung Russlands in einen Rohstofflieferanten für den Planeten Erde. Ich protestiere doppelt, wenn junge Frauen als eine solche Art Rohstoff angesehen werden. Es ist für mich jedoch unannehmbar, meine Ehefrau, Nina Andrejewna Karnauchowa, daran zu hindern, ihre eigene freie Wahl zu treffen."

Eine freie Wahl, die diese Nina allerdings nicht hat - ebenso wenig wie Olga, Tamara und die anderen Kandidatinnen bei dem Casting, das ein japanischer Impresario zusammen mit seinem russischen Übersetzer in einem Kursker Kinosaal veranstaltet. Für die Nightshows in den Grandhotels von Singapur werden ausschließlich junge, zudem ausnehmend hübsche Frauen gesucht, und Albert, ihr dolmetschender Landsmann an der Seite des höflich lächelnden Japaners, gibt den versammelten Bewerberinnen gleich anfangs zu verstehen, dass sie sich keine Hoffnungen machen sollen. Womit er heftigsten Widerstand findet - und die Handlung ihren Lauf nehmen kann. Nina, Olga und die geballte Frauenpower werden ihm und dem Japsen schon zeigen, was in ihnen steckt.

Der Verzweiflungskampf der Frauen um ein neues Leben in besseren Verhältnissen, als die Ehe mit ihren trinkenden, nörgelnden Männern es versprechen kann, ließe sich gewiss rabiater, ungeschminkt drastischer darstellen, als es hier bei der deutschsprachigen Erstaufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin geschieht. Konstanze Lauterbach begreift die Ausgangssituation des Casting, des Probespiels zwecks Endausscheidung, als Lizenz zum inszenatorischen Allotria. Mit einem russischen Volkslied, geschmettert von Gabriela Maria Schmeide, die sich als Tamara am Akkordeon zu begleiten versteht, beginnt es; ein anderes folgt, vorgetragen von Margit Bendokat, die als Glucke zweier frecher Küken alle Hände voll fuchtelnd zu tun hat. Die Regisseurin gibt im Übrigen ihrer Neigung nach, die Puppen tanzen zu lassen - zu einer Musik, die Puccini mit Schostakowitsch, Kurt Weill mit Theodorakis collagiert; wer wider Erwarten fehlt, ist Tschaikowsky, trotz der Motionen, zu denen sich die Damen, ihre Arme schwingend, in der Manier von "Schwanensee" zusammenfinden. Sven Lehmann, der Dolmetsch Albert, belohnt die Tänzerinnen mit je einer Portion Zuckerwatte, nachdem er sich eingangs von ihnen als Breakdancer hat herumschubsen lassen - ein ulkiger Gag, was sonst?

Zu ein paar ernsteren Momenten lässt sich Lauterbachs Inszenierung (Bühnenbild: Andreas Jander, Kostüme: Hannah Hamburger) erst im zweiten Akt herbei, wenn es zum Rencontre der Singapur-Sehnsüchtigen mit den bodenständigen, wenn auch vom Schnaps ins Schwanken geratenden Gatten kommt. Lautstark bringt Peter Pagel jene Protestresolution des Boris in Sachen seiner Nina vor, der zarten Katrin Heller, die sich als Schlangentänzerin geringelt hat; in drohend verhaltenem Ton setzen sich Anika Mauers Olga, eine Zauberkünstlerin der mannsgroßen Säge, und Timo Dierkes als ihr Viktor auseinander. Oliver Bäßler, ein stämmiges Pendant zu seiner Tamara, geht gegen Ende - endlich ... - mit einer Brechstange auf den japanischen Gentleman (Hiroki Mano) los, der sich dem Angriff geschmeidig zu entziehen weiß und mit Verbeugungen allerseits verabschiedet.

Ob die beiden strippenden Küken (Isabel Schosnig, Lisa Hagmeister), die ihm in den Fernen Osten folgen werden, dort eine ersprießliche Zukunft erwartet, steht in den Sternen. Ein russisches Publikum mag um sie bangen - uns lässt dieser Bunte Abend eher kalt. Eine Sternstunde des Deutschen Theaters haben wir nicht erlebt.

Günther Grack

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