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Kultur: Wer ein Menschenleben rettet, rettet die Welt

Bei dem geplanten Berliner "Holocaust-Denkmal" wird um Standort und Aussehen gestritten.Dabei wäre Hilfe für die überlebenden Opfer der NS-Diktatur das beste Denkmal.

Bei dem geplanten Berliner "Holocaust-Denkmal" wird um Standort und Aussehen gestritten.Dabei wäre Hilfe für die überlebenden Opfer der NS-Diktatur das beste Denkmal.Ein offener Brief an den KultursenatorVON HENRYK M.BRODERSehr geehrter Herr Radunski, gestatten Sie mir, für einen Moment die Position des Beobachters und Kritikers zu verlassen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, wie der Streit um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" auf eine praktische, vernünftige und würdige Weise beendet werden könnte.Nach der Unzahl von Vorschlägen, die in die Debatte geworfen wurden, mag eine solche Ankündigung ein wenig anmaßend erscheinen - nehmen Sie sich trotzdem die Zeit, diesen Brief zu Ende zu lesen. Sie haben vor einigen Wochen eine neue Runde im Wettbewerb um das "Denkmal..." eingeläutet.Es kann keinen Zweifel daran geben, daß dieser zweite Anlauf dort enden wird, wo schon der erste gescheitert ist.Die Vorgaben sind dieselben, die Kriterien unverändert, nur die Zahl der Teilnehmer wurde von 528 auf 25 reduziert, was immerhin als ein Versuch gewertet werden kann, eine "Jeder-kann-mitmachen"-Party auf ein halbwegs professionelles Niveau zu heben.Doch wie schon beim ersten Versuch wird gegen alle Einwände, die in der Diskussion laut wurden, an einer Linie festgehalten, die vollkommen unsinnig, unmoralisch und unrealisierbar ist.Sie schreiben in der Vorbemerkung zum "engeren Auswahlverfahren" u.a.: "Der Massenmord an den Juden ist ein Verbrechen sui generis.Er steht nicht nur für die Vernichtung von annähernd 6 Millionen Juden..., er riß auch eine 1000jährige Kultur aus dem Herzen Europas...Die Tragödie des Massenmordes an den Juden ist nicht nur, daß Menschen auf so schreckliche Weise umkamen..., sondern daß so viel unwiederbringlich verloren ging..." Allein diese Sätze müßten die Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland - Ignatz Bubis vornweg - dazu veranlassen, sich von Ihnen mit der gebotenen Höflichkeit zu distanzieren und Ihnen eine Ausgabe des fünfbändigen Jüdischen Lexikons von 1927 zum Abschied zu schenken.An welche Tausend Jahre Sie auch beim Schreiben dieser Zeilen gedacht haben mögen, die jüdische Kultur ist älter als 1000 Jahre.Und ein "Verbrechen sui generis" definiert sich nicht durch die Folgeschäden für die Hinterbliebenen, sondern durch die Gründlichkeit, mit der es begangen wurde.Als wäre die Ermordung von sechs Millionen Menschen nicht schlimm genug, verweisen Sie noch auf den "unwiederbringlichen Verlust, die bleibende Leere", die durch den Massenmord eingetreten sind.Einmal abgesehen davon, daß die "Leere" sehr schnell durch die Ariseure aufgefüllt wurde, die in die freigewordenen Wohnungen eingezogen sind und die enteigneten Betriebe übernommen haben, abgesehen davon also, daß ihre Argumentation nett klingt, aber faktisch falsch ist, soll damit begründet werden, warum die Ermordung von einer halben Million Zigeuner kein Verbrechen sui generis ist, keinen unwiederbringlichen Verlust bedeutet und keine bleibende Leere hinterlassen hat.Alles, was post festum für die ermordeten Juden gilt, gilt nicht für die anderen Opfer der Nazis.Das ist die nicht allzu diskrete Botschaft Ihrer Sätze: Was haben wir uns angetan, indem wir die Juden umgebracht haben.Zu behaupten, wie es in Ihrem Papier heißt, "dem Verbrechen an anderen Opfergruppen" werde "kein nachgeordneter Rang zugewiesen", ist zwar der reine Hohn, zeugt aber immerhin von einem letzten Rest schlechten Gewissens - denn Sie wissen genau, was Sie tun. Außer der Tatsache, daß auf der Werteskala der unwiederbringlichen Verluste jüdische Nobelpreisträger höhere rangieren als rumänische Zigeunergeiger, gibt es keinen Grund, die Opfer der Nazis neu zu selektieren und zu hierarchisieren.Und lassen Sie sich nicht täuschen: daß einige jüdische Honoratioren eitel und kurzsichtig genug sind, an ihrer eigenen Sonderbehandlung mitzuwirken, macht die Sache nicht besser, sondern noch schlimmer.Und ändert nichts an der schändlichen Idee, daß es höher- und minderwertige Opfer geben soll, wie es das Protokoll des Gedenkens offenbar erfordert. Im Laufe der Debatte wurde immer wieder gesagt, die Täter würden den Opfern ein Denkmal setzen, das sei ein in der Geschichte einzigartiger Vorgang.In Ihrem Papier heißt es: "In der Hauptstadt des Landes der Täter soll mit dem Denkmal der Menschen und der mit ihnen vernichteten Kultur" gedacht werden. Das ist eine ebenso wohlfeile wie frivole Argumentation und ziemlich geschmacklos obendrein.Es wird eine historische Kontinuität hergestellt, die außer zu einem symbolischen Ablaß zu nichts verpflichtet.Die Deutschen von heute sind nicht das Täterkollektiv von damals und die Juden von heute sind nicht das Opferkollektiv von gestern.Aber selbst wenn es so wäre, wenn die Täter (bzw.deren Nachkommen) den Opfern ein Denkmal setzen würden - grade dann müßte man die Täter daran hindern, ihr Privileg der Täterschaft wieder auszuüben.Wenn Sie also, Herr Radunski, darauf bestehen, als Täter bzw.im Namen der Täter zu handeln, dann müssen Sie sich im Namen der Opfer vorhalten lassen, daß Sie das Recht verwirkt haben, sich ihre Opfer nach Ihren Bedürfnissen aussuchen zu dürfen. Sie sehen, Sie haben sich in die Ecke manövriert.Was immer Sie jetzt anstellen, wie viele neue Wettbewerbe Sie ausschreiben und welche Argumente Sie nachlegen werden - Sie kommen aus der Bredouille nicht heraus.Ob es jetzt ein größeres oder ein kleineres Denkmal wird, ein lautes oder ein nachdenkliches, über den Ministergärten oder neben der Neuen Wache, es wird ein Denkmal des deutschen "Sündenstolzes" (Hermann Lübbe), das unweigerlich die Frage provozieren wird: Warum nehmen wir uns schon wieder die Juden vor? Und warum diesmal nur die Juden? Andererseits verstehe ich, daß Sie nicht einfach sagen können: Volle Kraft zurück, lassen wir es sein. Aus dieser Situation gäbe es einen Ausweg.Nehmen Sie das Geld, das für die Planung und den Bau des "Denkmals..." ausgegeben werden soll und gründen Sie eine Stiftung, die den Opfern von heute helfen soll, Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, die verfolgt wurden, die auf sich allein gestellt sind und es aus eigener Kraft nicht schaffen.Rufen Sie zu weiteren Spenden auf und nennen Sie diese Stiftung "Denkmal für die Opfer des Nazi-Terrors..." oder "Denkmal für die Opfer der braunen Barbarei...", ein zutreffender Name wird sich schon finden lassen.Nichts würde die Opfer der Nazis adäquater ehren als ein organisierter Versuch, den Opfern aktueller Gewalt beizustehen.Wir finden es noch immer empörend, daß die Amerikaner im Jahre 1939 die "St.Louis" mit ihren 936 jüdischen Passagieren zurück in das von den Nazis beherrschte Europa schickten, während wir Jugendliche, Kranke und Alleinstehend in das ehemalige Jugoslawien zurückschicken, weil wir kein Einwanderungsland sind und es uns nicht leisten können, ein paar tausend Bürgerkriegsopfer dauernd bei uns aufzunehmen.Wir haben mehr Flüchtlinge aufgenommen als andere europäische Staaten.Das ehrt uns, aber mit jedem Statement, das der bayerische Innenminister Beckstein abgibt, schmilzt unser moralischer Bonus dahin.Wir rufen "Wehret den Anfängen!" und "Laßt uns aus der Geschichte lernen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt!", aber das einzige, was wir aus der Geschichte gelernt haben, ist, daß man keine Juden umbringen soll, weil das hinterher teuer und uns ewig vorgehalten wird.Bei anderen Opfern der Geschichte legen wir weniger strenge Maßstäbe an. Und da ihnen die "jüdische Kultur", die aus dem Herzen Europas gerissen wurde, so am Herzen liegt: Eine Stiftung zur Rettung von Menschen wäre eine Verbeugung vor den Werten jüdischer Kultur.Das Judentum - die jüdische Kultur, die jüdische Religion - ist abstrakt und konkret zugleich.Es gibt nur den einen unsichtbaren Gott, keine Nebengötter, keine Heiligen, keine Gewaltenteilung im Himmel.Und es gibt genau 613 Gebote, die sogenannten Mitzwot, die befolgt werden müssen.Die wichtigsten sind: Den Allmächtigen preisen und Menschenleben retten.Wer ein Menschenleben rettet, rettet die Welt.Um ein Menschenleben zu retten, dürfen alle Gebote gebrochen werden, bis auf drei: Man darf Gott nicht lästern, keinen Mord und keine Unzucht begehen, ansonsten: anything goes.Und wenn ein frommer Jude an Jom Kippur, dem Versöhnungstag, in die Synagoge geht, dann ist er gehalten, zuerst seine Nächsten um Versöhnung zu bitten, bevor er sich mit Gott versöhnt.Alles, was gemacht werden muß, muß hier und jetzt erledigt werden, es gibt keine Belohnung im Jenseits. Ein "Denkmal...", das als abstrakte Idee konzipiert ist und dem konkreten Ziel dient, Menschen zu helfen, wäre nicht nur Ausdruck jüdischer Kultur, es würde auch von der Bevölkerung angenommen werden, die zu Recht nicht verstehen kann, warum es neben dem Centrum Judaicum, dem Jüdischen Museum, der Topographie des Terrors, der Wanseevilla und anderen Mahnmalen noch ein "Denkmal..." geben soll, das als "Kranzabwurfstelle" für salbadernde Politiker und durchreisende Staatsgäste gedacht ist.Geben Sie sich einen Ruck, Herr Radunski, stoppen Sie den teuren und nutzlosen Unsinn des "Denkmals...", das ohnehin nicht zustandekommen, aber noch sehr viel Geld und Kraft kosten wird, bevor es eines Tages in irgendeiner Ablage verschwindet.Helfen Sie mit, ein wirklich sinnvolles "Denkmal..." zu bauen, eines, das die toten Opfer der Nazis ehrt, indem es sich der lebenden Opfer annimmt, die am Leben bleiben möchten. Anstoß ohne Stein VON HELLMUTH KARASEK Gewiß, der Vorschlag von Henryk M.Broder, den er in einem "Offenen Brief an den Berliner Kultursenator" formuliert, ist radikal.Er empfiehlt nichts weniger als den Abschied von "Deutschlands nationalem Denkmal für die ermordeten Juden Europas" - jedenfalls den Abschied von einem steinernen Mahnmal.Manchmal muß man Knoten, so lehrt die Geschichte, mit dem Schwert zerhauen.Die Geschichte der Auslobungsverfahren für das Holocaust-Denkmal ist ein solcher Knoten.Ein gordischer, mindestens.Manchmal ist Destruktion die einzig konstruktive Möglichkeit. An die Stelle einer gebauten, in Erz gegossenen, architektonisch und künstlerisch gestalteten Gedenkstätte soll ein aktives Gedenken treten.Broder schlägt ein Andenken durch Taten vor: Der Toten, die dem fürchterlichsten Verbrechen der deutschen Geschichte zum Opfer gefallen sind, soll gedacht werden, indem man ihren Tod, ihre Ermordung als Mahnmal nimmt, neuerlichem Unrecht in Linderung und Hilfe für dessen Opfer entgegenzutreten. Mahnmale sind dazu da und dafür gedacht, dem Vergessen entgegenzuwirken.Einmal sollen die Toten nicht vergessen werden, weil die Nachgeborenen ihnen das schuldig sind - gewiß auch aus Scham.Aber wenn dem Vergessen entgegengewirkt werden soll, dann aus einem zweiten, ebenso gewichtigen Grund.So sinnlos und grausam der Massenmord war, so wenig er als Tat zu tilgen und wiedergutzumachen ist - einen einzigen Sinn kann er haben: Er kann die Nachgeborenen in ihrem Tun bestärken, dem Unrecht, das zu jeder Zeit wieder auf die grauenhafteste Weise wiederholt wird, aktiv entgegenzutreten. Das hieße nicht, daß man auf Mahnmale für die Opfer nun verzichten wollte, daß man die Erinnerung an sie zu löschen trachtete.Ich meine, daß ein Ort des Gedenkens in der präzisen und minuziösen Aufarbeitung der Geschichte ständig zu errichten ist; die Historie, der Unterricht der Geschichte, der sachlich und leidenschaftlich zugleich in die Gegenwart hereingebracht werden muß, kann und muß ein solches Mahnmal sein - eines, an dem sich noch dazu der Blick für die Gegenwart, für neue Gefährdungen schärft.Und ich meine außerdem, daß es (leider nur zu viele) Orte und Stätten in Deutschland gibt, an denen das Verbrechen stattgefunden hat.Sie als Zeichen der Mahnung und Erinnerung zu erhalten, ist eine wichtige Aufgabe. Der Verzicht auf das Holocaust-Mahnmal, wie Broder ihn vorschlägt - und der keineswegs ein ersatzloses Streichen der ursprünglichen notwendigen Grundidee bedeutet -, dieser Verzicht würde uns auch des gravierendsten Dilemmas entheben, das den Plan auch in seiner zweiten Phase belastet.Broder hat diesen Punkt noch einmal in wünschenswerter Klarheit angesprochen, wie es auch Malte Lehming im Tagesspiegel vom 17.7.1997 getan hat.Indem das Mahnmal nur einer Opfergruppe der Nazi-Willkür und des Nazi-Wahns gewidmet wird, nämlich den "ermordeten Juden Europas", macht es, ohne es zu wollen, alle anderen Opfer zu Opfern einer zweiten Kategorie.Es hierarchisiert die Verbrechen Hitlers und seiner Handlanger.Es rückt die jüdischen Opfer in eine Sonderrolle, wogegen sich die Nachfahren mit Recht verwahren: Sie wollen nicht wieder in ein besonderes Verhältnis zu Deutschland gedrängt werden, krasser ausgedrückt: Sie wollen keine Sonderbehandlung. Wer sich um heutige und - so steht zu fürchten - künftige Schicksale von Bedrohten und Verfolgten kümmert, der wird, wenn er Humanität üben will, nicht wählerisch sein können.

HENRYK M.BRODER

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