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Kultur: Wer ist schuld an Golgatha?

Am morgigen Freitag ist es wieder so weit: Auf der Via dolorosa in Jerusalem werden Pilgerprozessionen den schweren Weg abschreiten, den einst ihr Heiland zu gehen hatte.Es ist zu hoffen, daß sich die Frommen nicht wieder in die Haare geraten und mit ihren Holzkreuzen aufeinander einschlagen, wie es in der Vergangenheit oft genug vorkam.

Am morgigen Freitag ist es wieder so weit: Auf der Via dolorosa in Jerusalem werden Pilgerprozessionen den schweren Weg abschreiten, den einst ihr Heiland zu gehen hatte.Es ist zu hoffen, daß sich die Frommen nicht wieder in die Haare geraten und mit ihren Holzkreuzen aufeinander einschlagen, wie es in der Vergangenheit oft genug vorkam.Der Schlüssel zur Grabeskirche wird, da sich die christlichen Konfessionen nicht vertragen, von einem Muslim verwahrt.

Dabei ist keineswegs sicher, daß die Grabeskirche dort steht, wo Jesus gekreuzigt wurde.Auch über das Jahr der Kreuzigung streiten sich die Gelehrten.Wer sich daran macht, dem historischen Jesus nachzuspüren, steht rasch vor einer Wand unbeantwortbarer Fragen.Der Grund ist, daß die Evangelien - abgesehen davon, daß sie schwerlich als objektive Quelle gelten können - ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen verfaßt wurden, die sie schildern.Zeitgenössische Zeugnisse über Leben und Tod des Zimmermannssohns aus Nazareth gibt es nicht.In Galiläa wurden Tote erweckt, Blinde sahen, und Lahme gingen, doch die jüdischen Historiker Justus von Tiberias und Philo von Alexandria nahmen keine Notiz davon.Nur bei Flavius Josephus, der zwei Generationen später die jüdische Geschichte von der Weltschöpfung bis zur Regierungszeit des Kaisers Nero darstellte, finden wir einen respektvollen Hinweis, doch gilt dieses sogenannte Testamentum Flavianum allgemein als nachträglich eingeschmuggelte christliche Fälschung.

Selbst wenn wir vertrauensvoll den Evangelien folgen, ergibt sich ein verwirrendes Bild.Sollen wir wirklich glauben, daß die Jünger beim letzten Abendmahl ruhig weiteraßen, nachdem Jesus den Verräter entlarvt hatte.Was soll Judas verraten haben? Jesus war ein bekannter Mann, zu dessen Identifizierung man keines Denunzianten bedurfte."Das wäre ungefähr so", schreibt Karl Kautsky in seinem Buch "Der Ursprung des Christentums" (1908), "als wenn die Berliner Polizei einen Spitzel besoldete, damit er ihr die Person bezeichne, die Bebel heißt." Und woher wollen die Evangelisten wissen, was der sterbende Jesus am Kreuz sagte? Sie selbst schreiben ja, die Jünger seien bei der Verhaftung geflohen.Die meisten der "sieben letzten Worte" sind Zitate aus dem Alten Testament.Ist es wirklich vorstellbar, daß jemand unter Todesqualen mit seiner theologischen Bildung prunkt?

Matthäus und Markus berichten von einem nächtlichen Prozeß vor dem jüdischen Sanhedrin, Luthers "Hohem Rat".Bei Lukas findet der Prozeß am frühen Morgen statt, bei Johannes wird Jesus nur vom Hohenpriester verhört.Trotz dieser Widersprüche sind sich die Evangelisten darin einig, daß zwischen der Verhaftung Jesu und seinem Tod nicht einmal 24 Stunden vergingen.In dieser kurzen Zeit sollen der Prozeß - oder das Verhör - durch die jüdischen Autoritäten, die Überstellung an den römischen Präfekten Pontius Pilatus, die Verurteilung, die Geißelung, der Gang nach Golgatha und schließlich die Kreuzigung geschehen sein - und das alles am Passahfest, einem der höchsten jüdischen Feiertage.(Bei Lukas beteiligt sich auch der Tetrarch Herodes - Opernfreunden als Förderer der Tanzkunst bekannt - an diesem Wettlauf mit der Zeit.) Warum die überstürzte, religiösen Vorschriften hohnsprechende Eile, nachdem man soeben noch zur Vorsicht gemahnt hatte: "Ja nicht auf das Fest, auf daß nicht ein Aufruhr werde im Volk"?

Auch in anderen Punkten stimmen die Evangelisten überein: Die Priesterschaft beschließt, Jesus zu beseitigen.Sie läßt ihn durch ihre Leute verhaften.Pilatus will mit dem Fall nichts zu tun haben, er hält Jesus für unschuldig.Doch der von den Priestern aufgestachelte Mob verlangt, ihn zu kreuzigen - bei Matthäus (und Johann Sebastian Bach) mit dem prophetischen Ausruf: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!"

Die Juden als sich selbst verfluchende Mörder des Christengottes - dieses von Antisemiten wieder und wieder beschworene Bild paßt schlecht in das ökumenische Zeitalter des christlich-jüdischen Dialogs.Was tun? Vor zwölf Jahren vertrat der Freiburger Anwalt Weddig Fricke ("Standrechtlich gekreuzigt") die Auffassung, Jesus sei von der römischen Besatzungsmacht als vermeintlicher Aufrührer verurteilt und zur Abschreckung hingerichtet worden: "Umgebracht wurde Jesus nicht von den Juden, sondern von den Römern." Das Buch, das Fricke zu seiner unorthodoxen These inspiriert hatte, lag damals nur auf hebräisch und englisch vor.Jetzt ist es auch auf deutsch greifbar: "Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht" (Jüdischer Verlag, Frankfurt a.M.).Der Verfasser, Chaim Cohn, 1911 als Herrmann Cohn in Lübeck geboren, wanderte schon 1930 nach Palästina aus, wurde Generalstaatsanwalt und später Richter am Obersten Gericht Israels.Auch Cohn spricht die Juden von Schuld frei.Der Hohepriester, behauptet er, habe Jesus nicht festnehmen lassen, um ihn den Römern auszuliefern, sondern um ihn im Gegenteil vor dem drohenden römischen Zugriff zu warnen und von seinem selbstmörderischen Anspruch abzubringen, er sei der König der Juden.

Cohn argumentiert so: Das von den Evangelien geschilderte Verfahren vor dem Sanhedrin ist mit dem jüdischen Prozeßrecht nicht in Einklang zu bringen.Wäre Jesus vom Sanhedrin zum Tode verurteilt worden, dann hätte man ihn gesteinigt.Die Kreuzigung war eine römische Strafe, und römisch war auch die sarkastische Inschrift auf dem Kreuz.Die Beschuldigung der Juden ist Propaganda: Sie sollte die Christen von den Juden absetzen und bei den Römern, die soeben den Tempel in Jerusalem zerstört hatten, lieb Kind machen.

Daß die Christen allen Grund hatten, Pilatus und die Römer zu schonen, kann in der Tat als sicher gelten.Weniger klar ist, welches Prozeßrecht damals galt.Die Mischna, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert zusammengestellte Sammlung jüdischer Gesetze, kodifiziert das phärisäische Recht.Zur Zeit Jesu herrschten in Jerusalem jedoch die Sadduzäer, von deren Recht wir wenig wissen.Aber selbst wenn das Verfahren vor dem Sanhedrin gegen das Prozeßrecht verstieß - wäre es nicht denkbar, daß die Priesterkaste, aufgeschreckt durch den triumphalen Einzug des galiläischen Wanderpredigers und dessen Brandreden gegen das Establishment, einen Rechtsbruch für das kleinere Übel hielt? Die Evangelien (Joh.18/31) begründen die Vollstreckung des jüdischen Urteils durch die Römer mit dem Besatzungsstatut, das Todesstrafen der Besatzungsmacht vorbehielt.Cohn ist genötigt, nicht nur diesen - auch im Talmud bezeugten - Vorbehalt als nachgeschobene Erfindung abzutun, sondern alles, was auf den Hohenpriester und seinen Anhang ein schlechtes Licht wirft, also etwa die Hälfte der Passionsgeschichte.Da ein archimedischer Punkt außerhalb der Evangelien fehlt, von dem aus sich ihre Zuverlässigkeit überprüfen ließe, mag man zwar die gesamte Passionsgeschichte als Legende verwerfen.Einen Teil zu akzeptieren und einen anderen nicht, ist jedoch ein Akt intellektueller Willkür - vergleichbar dem Versuch, Franz Kafka Irrtümer in der Darstellung des Prozesses gegen Josef K.nachzuweisen oder Anna Karenina vom Vorwurf des Ehebruchs reinzuwaschen.

Cohns revisionistische These fand denn auch bei christlichen Theologen wenig Beifall.Selbst jüdische Forscher äußerten Bedenken - wie der Jerusalemer Neutestamentler David Flusser, der Cohn vorwarf, hinter den tendenziösen Zügen der Evangelien ihren historischen Kern verkannt zu haben.In seinem Buch "Die letzten Tage Jesu im Jerusalem" (1982) vertritt Flusser die Ansicht, eine konservative Clique reicher sadduzäischer Aristokraten habe den Volkstribun aus Nazareth an die Römer ausgeliefert, denen allerdings "die meiste oder die ganze Verantwortung am Tod Jesu" zufalle.Islamische Theologen hielten sich aus dem Streit heraus.Sie können den Karfreitag auch mit größerer Gelassenheit betrachten: Nach dem Koran ist nicht Jesus am Kreuz gestorben, sondern ein Doppelgänger, während er selbst zum Himmel fuhr.

JÖRG VON UTHMANN

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