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Kultur: Wer nur die Rache kennt

Modell Südafrika: Versöhnung ist kein Wunder. Zur Eröffnung des Festivals / Von Antjie Krog

In diesem Jahr feiert Südafrika zehn Jahre Demokratie, und das Land wimmelt von Journalisten, Filmemachern, Wissenschaftlern und Autoren, die die Story dazu liefern. Für viele von ihnen scheint die Friedlichkeit der Armut ein größerer Schock gewesen zu sein als die Armut selbst. Ihren Berichten nach zu urteilen, haben sie nicht wenigen Schwarzen das Gefühl vermittelt, sich dafür schämen zu müssen, dass sie vergeben haben und sich um Versöhnung bemühen.

Die Vorstellung, dass Vergebung Schande sei, reicht bis zu den Anfängen der Wahrheitskommission zurück. Ich weiß noch, wie mich eine australische Wissenschaftlerin bei einer der damaligen Anhörungen zu Menschenrechtsverletzungen mit zornessprühendem Blick fixierte: „Es ist unglaublich, welches Unrecht Ihr Weißen den Schwarzen angetan habt, indem Ihr sie dazu gezwungen habt, diesen ganzen Wahrheits und Versöhnungsscheiß zu schlucken! Was Ihr jetzt macht, ist schlimmer als Apartheid. Es ist Betrug und Manipulation, wodurch Ihr die Schwarzen dazu gebracht habt, diese Institution ohne einen einzigen Akt des kollektiven Widerstandes hinzunehmen." Dass sie damit eine Gruppe beleidigte, die gerade das übermächtige Apartheid-Regime zu Fall gebracht hatte, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen.

Neben diese Behauptung von der herbeimanipulierten Versöhnung ist ein zweiter Standard-Kommentar getreten. So sagte mir ein Fernsehproduzent aus Tel Aviv: „Ein bemerkenswerter Vorgang. Schade nur, dass in Israel so etwas nie funktionieren würde; denn dazu muss man Christ sein.“ Zwei Jahre zuvor hatte mir ein irischer Journalist mit Tränen in den Augen offenbart: „Welch ein Jammer, dass so etwas in Irland nie möglich wäre – zu viele Katholiken, verstehen Sie.“ Und kürzlich bemerkte ein amerikanischer Journalist auf einer Konferenz über den Einfluss von Gewalt auf Sprache: „Es ist wunderbar, dass die schwarzen Südafrikaner verzeihen konnten, doch als Weltmacht tragen wir Amerikaner die Verantwortung, dass der Unterschied zwischen Recht und Unrecht gewahrt bleibt." So hat sich jeder seine eigene Begründung zurecht gelegt, weshalb er töten muss: Die Wahrheits- und Versöhnungskiste ist gut für schwarze Menschen aus der Dritten Welt. Was jedoch uns Katholiken/Christen/Moslems/Amerikaner/Juden/Palästinenser angeht, so lösen wir das Problem nicht nur anders, sondern auch besser.

Die Liste derer, die den Versöhnungsprozess in Südafrika prinzipiell in Frage stellen, ist beeindruckend. Mahmud Mamdani, der während der Zeit der Wahrheitskommission an der Universität von Kapstadt unterrichtete, äußerte damals, dass Versöhnung ein Pakt mit dem Bösen sei. Einer der wichtigsten holländischen Beobachter des Versöhnungsprozesses, Afshin Ellian, zitiert Nietzsche: „.Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“. Und: „Das Unhistorische und das Historische ist gleichermassen für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur nöthig“ – was bedeutet, dass es ohne Vergessen keine Chance für die Menschlichkeit gibt.

Bei Jacques Derrida heißt es: „Vergeben sollte nichts Normales, Normatives, Normalisierendes sein. Es sollte eine Ausnahme bleiben, etwas mehr oder weniger Unmögliches.“ In seinem Essay über das Verzeihen geht Derrida so weit zu sagen, dass Bischof Tutu „mit ebensoviel gutem Willen wie gedanklicher Konfusion das Vokabular von Reue und Vergebung“ in eine Institution eingeführt habe, die „ausschließlich zur Bearbeitung politisch motivierter Verbrechen bestimmt“ sei. Und während einer Vorlesung an der Universität des Westkaps behauptete Derrida, das Unverzeihliche zu verzeihen, komme einem Wunder gleich.

Bedeutende Köpfe rücken also den Begriff des Verzeihens in den Horizont des Bösen, des Wunders oder des Vergessens. Folglich sehen sich die Schwarzen Südafrikas mit einem Widerspruch konfrontiert: Auf der einen Seite hält man ihre Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft für primitiv, inkonsequent, verrückt. Auf der anderen Seite wird ihnen Lob und Bewunderung zuteil, gerade seitens jener Völker, die selbst ein ähnliches Verhalten niemals ins Auge fassen würden. Frankreich beispielsweise spendete Millionen an die südafrikanische Wahrheitskommission, während es zur gleichen Zeit den Kriegsverbrecher Maurice Papon vor Gericht stellte. Dasselbe Amerika, das unmittelbar nach dem 11. September 2001 Vergeltung übte, ließ der Wahrheitskommission ebenfalls Gelder in Millionenhöhe zukommen.

Wie ist es zu erklären, dass der Versöhnungsprozess in Südafrika soviel Beifall und Unterstützung gerade bei Leuten findet, die selbst nicht im Traum an Versöhnung denken? Gewiss sind sie nicht ernsthaft der Meinung, die Schwarzen Südafrikas seien ihnen überlegen, indem sie sich von der destruktiven Gewaltspirale fernzuhalten verstünden, während sie selbst, die Westler, sogar für den Versuch zu unreif seien. Wie aber lässt sich dann der Zusammenhang verstehen, wenn nicht so, dass er einen Hautgout von Rassismus erhält: Schwarze sollten vergeben, Weiße müssen Rache nehmen.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben die Schwarzen Südafrikas ein überzeugendes neues Modell vorgelegt. Dennoch gilt es nach wie vor nicht als nachahmenswertes Beispiel. Wie der Dichter und Journalist Sandile Dikeni einmal bemerkte: „Was immer wir Schwarzen sagen, es hat keinen Wert, eben weil wir schwarz sind. Die Philosophien der Afrikaner werden behandelt wie ihre Masken – als Exotika, die gut genug sind, an die Wand gehängt oder zur Illustration in Broschüren für Touristen verwandt zu werden; niemals aber begegnet man ihnen mit dem gleichen Respekt wie den westlichen Philosophien.“

Der Rassismus geht noch weiter: Staatsoberhäupter, die nicht davor zurückschrecken, in andere Länder einzumarschieren, kommen von weither angereist, um sich mit unserem ehemaligen Präsidenten Nelson Mandela auf einem Foto verewigen zu lassen. In ihrem eigenen Land tun sie alles, um „Täter“ vor Gericht zu zerren, Mandela aber wird umarmt, weil er den Mördern seines Volkes vergeben hat. Warum? Mit angemessener Scham muss es bekannt werden: Weil der Westen Wut versteht, weil er Rache faszinierend findet und den Hass aus tiefstem Herzen bewundert.

Eines darf man getrost annehmen: Was in Südafrika möglich war, hat nichts mit dem christlichen Glauben zu tun. Sonst wäre das gleiche auch in Irland oder in den USA möglich gewesen. Im Gegenteil scheinen gerade die protestantischen Fundamentalisten im amerikanischen Bible Belt, oft an vorderster Front zu stehen, wenn es gilt, Rache zu nehmen. Auch mit dem Einfluss der Weißen hat das Ganze nichts zu tun, denn die Weißen (und speziell die Buren) glauben bis heute nicht an die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Wenn sie unter sich sind, sagen sie eher: Was ist nur los mit diesen Schwarzen, nicht einmal richtig hassen können sie, und mit denen müssen wir uns nun ein Land teilen. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die große Zahl überwiegend junger Leute, die die zehnjährige Schule der Massenbewegung durchlaufen hatten, 1994 etwas akzeptiert hätten, was ihnen gegen den Strich ging, nur weil zwei alte Männer, Tutu und Mandela, oder irgendein Weißer sie dazu aufgefordert hätten.

Derrida verkennt Tutu, wenn er ihn nur als religiösen Führer begreift. Bush begeht einen Fehler, wenn er in Mandela bloß den außergewöhnlichen Staatsmann sieht. Tutu und Mandela selbst wären die ersten, die sie und uns darauf hinweisen würden, dass ihr Denken seine Wurzeln in der schwarzen Gemeinde Südafrikas hat. Die Essenz dessen, was sie sind und darstellen, ist die Essenz des Schwarz-Seins in Afrika.

Obwohl dem westlichen Denken nur schwer zugänglich, ist der Versöhnungsgedanke doch verstanden und formuliert worden von der Mutter eines der Sieben von Guguletu, die von der Polizei brutal niedergeschossen worden waren – einer fast ungebildeten und durch den Verlust gebrochenen Frau. Cynthia Ngewu, die Mutter von Christopher Piet, sagte: „Wenn ich das, was die Leute Versöhnung nennen ... wenn ich es richtig verstehe ... wenn es bedeutet, dass der Täter, dieser Mann, der Christopher Piet erschossen hat ... wenn es bedeutet, dass dieser Mann wieder ein Mensch wird, so daß auch ich, dass wir alle unsere Menschlichkeit wiedererlangen ... dann bin ich einverstanden damit, dann unterstütze ich alles."

Was Cynthia Ngewu wusste – und Bush nicht weiß: Wer eines anderen Sohn tötet, tut dies, weil er seine Menschlichkeit verloren hat. Es liegt im Interesse aller Beteiligten, dem Täter zu helfen, seine Menschenwürde wieder zu erlangen. Und Cynthia Ngewu wusste im Gegensatz zu Bush auch, dass die Chance, das eigene Menschsein zurückzuerlangen, zerstört wird, wenn man den Täter mit dem Tod bestraft. Man friert gleichsam die Gesellschaft im Zustand der Unmenschlichkeit ein.

Viel Grausames ist geschehen und geschieht noch in den christlichen Gesellschaften. Entsetzliches haben die Gesellschaften Afrikas erlebt und erleben es immer noch. Doch die Welt beraubt sich selbst einer Chance, wenn sie weiterhin darauf besteht, daß es sich bei den Ereignissen in Südafrika um ein Wunder handele (das auf die Verhältnisse andernorts nicht übertragbar sei), statt anzuerkennen, dass wir es mit einer der größten moralischen Leistungen des 20. Jahrhunderts zu tun haben.

Dieser von Wolfgang Schlüter aus dem Englischen übersetzte Essay ist eine von Antjie Krog selbst bearbeitete Fassung der Rede, die sie gestern Abend zur Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals im Berliner Hebbel-Theater hielt. Das Copyright liegt beim Festival.

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