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Kultur: Werkstatt der Resteverwertung

Jürgen Flimms Bayreuther „Ring“ geht in sein drittes Jahr – und sorgt für Ernüchterung

Von Sybill Mahlke

Ein Welttheater, das aus der Tiefe kommt: Wer Ohren hat zu hören, könnte auf dieses Versprechen der Musik hoffen, wenn Adam Fischer mit dem Festspielorchester das Naturmotiv des „Rheingold“-Vorspiels modelliert, 136 Takte lang. Die Monotonie des Es-Dur-Klanges belebt sich, der Fluss erwacht. Welche Verheißung! Der Bayreuther „Ring des Nibelungen“, den Regisseur Jürgen Flimm im nunmehr dritten Jahr verantwortet, ist dagegen eine Ernüchterung. Hat der Zuschauer seit dem „Jahrhundert-Ring“ Patrice Chéreaus 1976 begriffen, dass die mythische Handlung mit der Entstehungszeit des Werkes und der Gegenwart der Aufführung zusammengehört, so ist diese Erfahrung längst unumgänglich geworden. Kupfer, Gisbert Jäkel, der heterogene Stuttgarter „Ring“ singen ein Lied davon.

Goldgräberstimmung

Flimms Stilgemisch jedenfalls wird keine Methode zuteil. Das Recycling schließt Ungereimtheiten und Willkür ein. Schiffswracks auf dem Grund des Flusses dienen den Rheintöchtern zu Balanceübungen und Operettenballett. Ein Fahrstuhl fährt auf und ab. Alles schon gesehen? Das Rheingold aber erinnert an die Tatsache, dass dieses Edelmetall in Wirklichkeit bis 1923 bei Karlsruhe noch gewonnen wurde. Daher die Goldkörner, die die Badenixen und ihr Verfolger Alberich lustig in die Höhe werfen. Blättchen wie goldener Regen. Das glitzert im Orchester und sieht hübsch aus. Es geht hier um nichts weniger als die Verfluchung der Liebe um der Macht willen – und Flimm macht einen Goldgräber-Diebstahl daraus.

Die Götter haben nicht nur bürgerliche Probleme sondern benehmen sich wie langweilige Kleinbürger. Fricka sammelt Müll in blaue Säcke, während Wotan das Architekturmodell Walhalls auf einen Gartenstuhl stellt. Überhaupt: Warum besitzen die Herrschaften derartig schäbige Möbel, lauter Einzelstücke, die nicht zusammenpassen? Alberichs Nibelheim erscheint da in Leder und Mahagoni besser möbliert.

Was dem „Vorabend“ der Tetralogie erschwerend abgeht, ist stimmlicher Schmelz. Anja Kampe (Freia) und Simone Schröder (Erda) müssen für das Knarzen der Männerstimmen entschädigen. Vor allem Graham Clark als Loge attackiert mit den Resten seines Tenors, die kaum noch Charakter übrig lassen, jeden sensiblen Nerv. Man kann vergessen, was für Kantilenen Richard Wagner dem interlektuellen Feuergott geschrieben hat! „Die Walküre“ hat es besser, weil vokaler Glanz aufglüht. Violeta Urmana und Robert Dean Smith als Sieglinde und Siegmund finden sich mit dem Dirigenten Adam Fischer zu einer Gestaltung der Wälsungen-Tragödie, die „Tränen und Trost zugleich“ weckt. Auf der musikalischen Höhe, als Gesangsstars zu gelten, haben beide noch den Charme der Neuheit bewahrt, die Sängerin wohl auch einen Hauch Naivität. Seltsam, dass Flimms intendierter Regietheater-Realismus vor diesem Paar versagt. Vergessen geglaubte Posen machen sich breit.

Eines der angenehmsten Bühnenbilder Erich Wonders im Vergleich zu Walhalls stählerner Wucht ist die mit der Natur zum Biotop verschmolzene weiße Veranda von Hundings Herrenhaus. Philip Kang wirkt darin wie eine sympathische Imitation „schwarzer" Hundings. Wotan (Alan Titus) sich steigernd nach dem „Rheingold!“ hat in seiner Burg die Führungsetage bezogen. Fricka (Mihoko Fujimura: große Stimme, kurzer Atem), die kleine Hausfrau, naht nun im Fuchspelz, um den Gatten zur Ordnung, sprich: Sigmunds Tod, zu verpflichten.

Warum sich der Götterclan sozial so opulent verbessert hat, bleibt rätselhaft. Ebenso, dass der Chef über den Schreibtisch klettert oder am Boden Zuflucht sucht. Stuntgirls jumpen vom Schnürboden herab, und Statistinnen üben militärischen Mädchendrill, als wäre es mit den acht Walküren, die in erstrangiger Besetzung singen, nicht genug. Aber im zweiten Teil der Tetralogie geht der Stern von Evelyn Herlitzius auf. Eine junge Persönlichkeit! Übermütig, mitreißend unausgeglichen das "Hojotoho!" Mit dem Speer in Vaters Büro, mühelos klingt die Höhe dieser neuen Brünnhilde, um in der Intimität des Dialogs ihren Eigenton zu suchen. Herlitzius könnte zu den ganz Großen gehören, wenn sie das Tremolo-Problem ihrer Stimme unter Kontrolle bekäme.

Sommerschlussverkauf

Im "Rheingold" hat Mime als Beobachter des Ring-Raubs eine Beziehungslinie zum „Siegfried“ hergestellt, bevor er mit seinem Köfferchen durch die Zeit zieht. Dem Regisseur geht es hier einleuchtend darum, Mythos und Märchen mit sichtbaren Zeichen zu verbinden. Als Ziehvater Siegfrieds wird der Zwerg nun allerdings nicht mehr von Michael Howard, der ganz reizend „niedlichen Niblungentand“ besungen hat, sondern von Graham Clark verkörpert.

Das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, beginnt in vertrautem Ambiente: Mime hat sich mit dem Wälsungen Spross in Hundings „Hütte“, das verwaiste Herrenhaus, zurückgezogen, in dem die Weltesche nun quer liegt. Resteverwertung, gegen die nichts zu sagen ist. In Bayreuth herrscht Sommerschlussverkauf, in der Stadt wie auf dem Grünen Hügel.

Regisseur Jossi Wieler hat jüngst das Stuttgarter Publikum in schauspielerischer Chéreau-Tradition verwöhnt. Hier aber raufen, springen und brüllen zwei Tenöre (Clark und Christian Franz, ein eigentlich durchaus heldisch-kantabler Siegfried) aufeinander los. Der sterbende Fafner wird rührend im Rollstuhl vorgeführt, bevor Brünnhilde aus ihrem harten Dauerschlaf erweckt werden kann. Siegfried, der sie wachküsst, trägt das hässlichste aller Kostüme aus der Werkstatt Florence von Gerkans.

Das Schlimmste am Beginn der „Götterdämmerung“ wiederum ist das Boot. Während die Nornen mit ihrem „Weltenklatsch“ (Thomas Mann) den Göttermythos beschwören, pinselt Siegfried auf dem Walkürenfelsen sein Gefährt für die Rheinfahrt an. Flimms Neigung zu stummen Nebenhandlungen und -personen erreicht hier einen trivialen Höhepunkt. Zum jubelnden Abschied Brünnhildes von Siegfried werden Reisegepäck gepackt und Frühstücksbrötchen geschmiert. Kurzum: Der Kahn bleibt stecken, der Vorhang fällt, und die Musik stellt richtig, was die Szene mit dem manövrierunfähigen Boot verballhornt hat.

Wenn von nun an die Kraft des „Symphonischen“ das Drama beherrscht, kommen die vielen schönen Orchestermelodien in Erinnerung, die unter Adam Fischer schon gelungen sind: nicht pathetisch, aber beredt bis ins Detail. In der chromblitzenden luftigen Gibichungenhalle läuft das Drama dann gleichsam von selbst: Die Hagen-Intrige wird von dem grandiosen John Tomlinson getragen, die Siegfried-Tragödie von Wolfgang Schmidt, einem Sänger, der mit seinem musikalischen Impetus für sich einnimmt, selbst wo die Stimme Grenzen zeigt. Olaf Bär bringt in die schmale Partie des Gunther seine noble Gesangskultur ein, während die Gutrune Yvonne Wiedstrucks überanstrengt ist. Blass auch die Waltraute der Lioba Braun und der Alberich Hartmut Welkers. Bleibt Evelyn Herlitzius als Brünnhilde – zart, entschlossen und zukunftweisend. Flimm hat bis zum Schluss einzelne Einfälle: Die wahrhaft umwerfende Wirkung des einen oder anderen Zaubertranks, vor allem aber Hagens Reue nach dem Mord an Siegfried. Hier sagt die Inszenierung, dass auch der Nibelungensohn nur eine Marionette war.

Hügelan, hügelab, Pausen im vertrauten Bayreuther Parkgelände, nicht zuletzt das Werk: Da kommen rund 26 Stunden Wagnerdienst zusammen. Lohnt sich das bei so viel Leerlauf, Fehlern, Nebel und klischeehafter Gegenwärtigkeit? Die „Werkstatt Bayreuth“ will, dass die Show planmäßig weitergeht, 2003, 2004. Flimm scheint die Welt nicht mehr zu verstehen, wenn das Publikum gegen ihn abstimmt. Und so drängt sich leider auf, die letzten Worte der Tetralogie zu zitieren: „Zurück vom Ring!“

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