zum Hauptinhalt
Sally Hawkins

© ddp

Wettbewerbsfilm: Flirt mit der Welt

Ein turbulentes - und philosophisches - Feelgoodmovie: "Happy-Go-Lucky“, der Film des britischen Starregisseurs Mike Leigh, geht im Wettbewerb der Berlinale auf Punktefang.

Für einen Augenblick ist es genau wie letztes Jahr. Tagelang war der Wettbewerb dahingedümpelt, und dann fegte ein Lachsturm, ein Wärmesturm, ein unbedingt festzuhaltendes Gutelaunegefühl durch den Berlinale-Palast, nur weil Marianne Faithfull als liebe Londoner Oma in Geldnöten Männern in einem Sexschuppen per Hand Erleichterung verschaffte. Sam Garbarskis „Irina Palm“ brachte Witz und Wonne, die guten alten Exportartikel des britischen Kinos, über die Festivalgemeinde, und vor lauter Erleichterung über soviel Seelensonne kürten viele den Film damals gleich zum Bären- Favoriten.

Es kam anders, „Tuyas Hochzeit“ entzückte die Jury, und auch sonst ist manches diesmal knapp, aber entscheidend verschieden. Mit einem englischen Film, in dem geradezu unverschämt unermüdlich die wahre Sonne scheint, erobert mit Mike Leigh einer der Großveterane des New British Cinema sein Publikum im Gelächtersturm und – endlich! – mit Szenenapplaus. Die demonstrierte gute Laune in „Happy-Go-Lucky“ aber muss sich gegen existenzielle Tragik behaupten; folglich ist auch das Ende nicht konfekthaltig happy, sondern schöner, weiter und offener. Ja, wenn er so viel Glück hat wie seine Heldin, dann macht Mike Leigh den goldenen Hattrick perfekt – und holt nach der Palme für „Lügen und Geheimnisse“ (1996) und dem Löwen für „Vera Drake“ (2004) in Berlin seinen Goldenen Bären.

Die Grundschullehrerin Pauline, von aller Welt nur Poppy genannt, ist die unwiderstehliche – man könnte auch sagen: unbarmherzige – Sonne dieses Films: Die Dreißigjährige kleidet sich wie ein Clown, in lila Batik-T-Shirts unter lustigen Leopardenmusterblusen, und selbst ihre Nylonstrumpfhosen unterm grellgrünen Röckchen wollen noch dekorativstmöglich bedruckt sein. Hauptsache bunt. Auch ihr Kunstunterricht funktioniert geradezu ansteckend frohsinnig, und ihr Zuhause hat sie sich knallig-kitschig eingerichtet, vom Kaffeetopf mit Dalmatinerkopf bis zur tausendfarbigen Patchworkdecke überm Sofa. „Happy-Go-Lucky“ ist als erstes: Farbschock total. Wer das nicht abkann, ist selber schuld. Und spätestens nach sieben Minuten draußen.

Aber ist diese Poppy, in jeder Szene von Sally Hawkins mit umwerfender Frische und Wandlungsfähigkeit verkörpert, überhaupt auszuhalten, über einen allerkleinsten Kreis Eingeweihter hinaus – eine Frau, die wie ein besonders glückliches oder vielleicht auch besonders bindungsgestörtes Kleinkind zu jedem Menschen sofort keck Kontakt aufnimmt, ob der das will oder nicht?

Das ist die Grundfrage, die Versuchsanordnung, das philosophische Theorem dieses Films: Kann man die Menschheit und ihre verlorenen Menschlein durch bloßes Gutsein heilen, kann man sie vielleicht gerade dadurch in ihr Glück zwingen, dass man ihre Ignoranz, ihre Heuchelei, ihre Lügen, ihren Rassismus, ihren Hass einfach nicht zur Kenntnis nimmt?

Zu schön ist dieser Weltentwurf, um wahr zu sein – und doch aufregend durchzuspielen gerade in einem Film, der sich durchaus dem Realismus verpflichtet fühlt, mit allerhand superglaubwürdigem Personal um diesen Vitalitätskreisel namens Poppy, der auch die verstocktesten Verhältnisse zum Tanzen bringt. Nicht nur, dass sie jedem erstbesten muffeligen Buchhändler in ihrem Nordlondoner Kiez den Boden seiner Muffeligkeit binnen Sekunden zu entziehen trachtet; nicht nur, dass sogar der Klau ihres Fahrrades ihr nur den schönen Stoßseufzer „Ich konnte mich gar nicht verabschieden“ entlockt; nein, sie macht in ihrem Dauerflirt mit dem Leben (nein, nicht mit den Männern!) jede Begegnung zum Fest – sei es die abendlichen Sauf- und Tanztouren mit den Freundinnen, den Besuch beim Physiotherapeuten oder auch ein paar superkomisch durcheinanderzubringende Flamenco-Übungsstunden.

Um der Welt so entgegenzutreten, braucht man vor allem eines: nie nachlassende Furchtlosigkeit. Sogar einen Riesen von brabbelndem Stadtstreicher verschafft sie nachts durch pure Menschenneugier und Nichtverjagbarkeit einen Augenblick des Zusichkommens – und es ist diese erratische, wie von sehr fern an „Irina Palm“ erinnernde Szene, die vielleicht eines Tages von diesem Film am eindrücklichsten in Erinnerung bleibt. Nur ihr Fahrlehrer Scott (Eddie Marsan) widersteht dem Werben um den Traum, dass alle Dunkelheit der Welt doch nicht existieren möge: Rassistisch, pessimistisch, fatalistisch spuckt er ihr den Schlagzeilendreck der Welt ins Gesicht. Und verliebt sich doch – langsam und gegen seinen eisernen Willen – in diese Trampolinfrau, die immer zu leicht, zu leicht und noch einmal zu leicht für alles sein will.

Das – und nicht eine andere, die schön und spät in den Film hineinspaziert – ist die eigentliche und zugleich die tragische Liebesgeschichte von „Happy-Go-Lucky“ und sein philosophisches Duell. Und das ist es auch, weshalb Mike Leigh immer und ewig einen Tick größer bleiben wird als sein großer, so scheinbar ähnlicher Kollege Ken Loach. Denn wo Loach sein Publikum immer wieder mit dem Paradox zu trösten sucht, dass die Welt zwar abgrundtief böse, der Mensch darin aber am Ende gut sei, weiß der pessimistische Mike Leigh selbst in seiner bislang sonnigsten Komödie mehr: Das Glück kommt nur zu sich selbst, wenn es das unrettbare Unglück der Welt in sich aufnimmt – und im schmerzhaftesten Fall sogar selber Unglück bringt.

Heute 9.30 und 22.30 (Urania), 20 Uhr (International), 17. 2., 22 Uhr (Berlinale-Palast).

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false