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Moore mit dem liberalen italienischen Firmenchef C. Domenicali.

© Dog Eat Dog Films

"Where to Invade Next" auf der Berlinale: Michael Moore marschiert in Europa ein

„Where to Invade Next“ heißt Michael Moores heitere Doku, in der er europäische Ideen für Amerika klaut: Urlaub für Flitterwochen, gutes Schulessen, Mutter-Kind-Kuren - und die deutsche Erinnerungskultur.

Er musste absagen, in letzter Sekunde. Michael Moore lag mit Lungenentzündung im Krankenhaus, er kann auch jetzt noch nicht reisen, auch nicht nach Berlin. Er sei aufrichtig traurig, heißt es in einem Statement, und „besonders den Deutschen sehr dankbar, die so prominent in seinem Film vertreten sind“.

Schade, in der Tat. Denn von den zwei US-Politregisseuren auf dieser Berlinale hat Michael Moore den klügeren, gewitzteren Film gedreht. Spike Lees Anliegen, den Rassismus in den USA und die Gewalt auch der Schwarzen gegen Schwarze zu bekämpfen, in allen Ehren, aber sein Hip-Hop-Drama „Chi-Raq“ bleibt doch arges Agitprop-Kino. Pädagogisch wertvoll, aber schwergängig, noch dazu in holpriges antikes Versmaß gebettet. Auch dramaturgisch mangelt es der Story um den Sexstreik der Frauen gegen die Gewalt der Straßengangs an Rhythmus, Tempo und Witz.

Invasiv war Michael Moore schon immer

Michael Moore legt in „Where to Invade Next“ dagegen Ironie an den Tag, auch in eigener Sache. Schon der Titel verrät es. Invasiv war der oscarprämierte Mockumentarist schon immer, schon in seiner frechen General-Motors-Doku über seine Heimatstadt Flint, „Roger & Me“, mit der er auf der Berlinale 1990 aus dem Stand heraus zur Kultfigur wurde. Seitdem hat er Amerika an seinen neuralgischen Punkten attackiert: Waffenindustrie, Anti-Terror-Krieg, Gesundheitspolitik, Finanzkrise. Die mit den Jahren zunehmende Leibesfülle des Regisseurs verstärkt den Eindruck des Bulldozerhaften – wobei seinem nassforschen Auftreten immer auch etwas heiter Brummbäriges innewohnt. Wo marschiere ich als Nächstes ein? Auf nach Europa.

Raubzug im Namen der Menschlichkeit

Es ist, keine Sorge, eine friedliche Invasion. Michael Moores effektivste Waffe war schon immer die Ungläubigkeit: Ich fasse es nicht, das müsst ihr mir erklären, liebe Europäer. Denn ich marschiere nur bei euch ein, um Ideen für Amerika zu klauen, Traditionen, Gepflogenheiten, soziale Errungenschaften – ein Raubzug im Namen der Menschlichkeit.

Erste Station: Italien. Die Italiener, das fällt ihm gleich auf, sehen alle aus, als ob sie gerade guten Sex gehabt hätten, so glücklich und entspannt. Moore lässt sich erzählen, dass es bis zu acht Wochen Jahresurlaub gibt, Sonderurlaub für die Flitterwochen, starke Gewerkschaften oder auch zweistündige Mittagspausen für die Pasta zu Hause. Die Firmenbilanz leidet nicht darunter, im Gegenteil. Oder Frankreich, das Land, in dem die Demokratie, der Existentialismus und der Blowjob erfunden wurden (O-Ton Moore): Da sitzen die Kinder in einer stinknormalen Provinz-Grundschule in der Kantine und bekommen ein mehrgängiges Menü serviert, mit Jakobsmuscheln zur Vorspeise!

In Portugal verteidigen seine Gesprächspartner – Polizisten und der Gesundheitsminister – den straffreien Drogenkonsum; Drogenkriminalität und -sterberate sind seit der Gesetzesänderung dort deutlich gesunken. Oder Finnland: keine Hausaufgaben, kein Multiple Choice, und trotzdem Bildungsparadies. Slowenien hat kostenlose Unis, Norwegen Vorzeige-Gefängnisse selbst für Mörder ... Heeresführer Moore kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Moore beschönigt nichts

Besonders lange hält er sich in Deutschland auf, in Nürnberg, ausgerechnet. Hier werden die besten Bleistifte produziert, hier gibt es Mutter-Kind-Rehakliniken (das Recht auf eine Kur, weltweit einmalig!), hier wirkten aber auch die Nazis. Moore beschönigt nichts, verneigt sich jedoch vor der deutschen Art, sich den Schatten der eigenen Geschichte zu stellen, ist begeistert von den Stolpersteinen und stellt sich vor, wie es wäre, wenn Straßenschilder in der Wall Street an Rassismus und Sklaverei erinnerten.

Michael Moore, altersmilde mit 61? Vorsicht, seine Naivität ist gespielt, eine Finte, ein Zerrspiegel, in dem erneut amerikanische Missstände sichtbar werden. Aber sein Film verrät uns Europäern auch, dass wir etwas Kostbares zu verlieren haben in Zeiten der totalen Durchökonomisierung: die Menschlichkeit, die Freundlichkeit, die Lebenslust.

17.2., 21 Uhr (Friedrichstadt-Palast); 18.2., 12.30 Uhr (Zoo-Palast 1): 19.2., 18 Uhr (Friedrichstadt-Palast); 20.2., 12.30 Uhr (HdBF); 21.1., 9.30 Uhr (Zoo-Palast 1). Filmstart am 25. Februar

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