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Diego Rivera, „Der Mensch, Meister des Universums“, Wandbild von 1934 im Palast der Schönen Künste (INBAL) in Mexico City.

© 2020 Banco de México Diego Rivera Frida Kahlo Museums Trust/VG Bild-Kunst

Whitney Museum: Eine Neuschreibung der nordamerikanischen Kunstgeschichte

Revolution im Wandbild: Das New Yorker Museum zeigt in einer faszinierenden Ausstellung den Einfluss der mexikanischen Muralisten.

Mexiko erlebte in den 1920er Jahren eine Revolution, nicht so explosionsartig wie diejenige in Russland, die die Zarenherrschaft hinwegfegte, sondern eine, die sich über das ganze Jahrzehnt hinzog. Eine wichtige Rolle spielten aufständische, mittellose Landarbeiter, deren Anführer Emiliano Zapata, 1919 heimtückisch ermordet, zur Legende wurde.

Das mühsam Geeinte entwickelte dann – unter erheblicher Mitwirkung des Erziehungsministeriums – eine Nationalkultur, in die vor allem das indigene Erbe einfloss. Eine bedeutende Rolle spielte die Bildpropaganda in Form von Wandbildern – Bilderzählungen für die breite Bevölkerung, aber doch als Bekräftigung des aus der Revolution gespeisten Nationalbewusstseins.

So entstand über staatliche Aufträge der „Muralismo“, die Wandbild-Bewegung zur Ausschmückung öffentlicher Gebäude mit Wandbildern. Der Ruhm der führenden Muralisten drang über die Landesgrenze in die USA. Und bald fanden José Clemente Orozco (1883-1949), Diego Rivera (1886-1957) und als Jüngster David Alfaro Siqueiros (1896-1974) in den Vereinigten Staaten Aufträge und Beschäftigung.

Das ist an sich schon bemerkenswert, zumal gerade diese Großen Drei des Muralismo politisch weit links standen und aus ihren sozialrevolutionären Überzeugungen keinen Hehl machten. Noch bemerkenswerter ist der enorme Einfluss, den sie auf die Kunst in den USA ausübten, nicht nur auf zahlreiche Künstler, sondern auf das Verständnis von Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft überhaupt.

Muralisten wie Diego Rivera bekamen in den USA Aufträge

Dieser Prozess der kulturellen Übertragung – durchaus nicht eines beiderseitigen Austauschs – ist Gegenstand einer faszinierenden Ausstellung, die das Whitney Museum of American Art soeben in New York eröffnet hat.

Unter dem Titel „Vida Americana: Mexikanische Muralisten erneuern die amerikanische Kunst 1925 - 1945“ zeigt die von Kuratorin Barbara Haskell, der Grande Dame des Hauses, gemeinsam mit Marcela Guerrero erarbeitete Ausstellung einen Querschnitt durch das Schaffen der Großen Drei in den USA wie derjenigen einheimischen Künstler, die von ihnen lernten oder in Auseinandersetzung mit ihnen eigene Formen der Wandmalerei entwickelten.

Es geht dem Whitney Museum, das in diesem Jahr den 90. Jahrestag seiner Gründung feiert, jedoch nicht um die Darstellung eines Randaspektes der US-Kunstgeschichte, sondern um deren Reformulierung – weg von der seit jeher behaupteten Dominanz der Pariser Moderne kurz vor dem Ersten Weltkrieg und hin zu einer dezidiert amerikanischen Sichtweise.

Die Ausstellung in New York läuft bis 17. Mai 2020.
Die Ausstellung in New York läuft bis 17. Mai 2020.

© Laura Bonilla Cal / AFP

Allerdings hat die politische Ausrichtung der Muralisten dazu geführt, dass manche ihrer nordamerikanischen Arbeiten abgenommen, übermalt oder gar vollständig zerstört wurden.

Um das zu zeigen, ist New York, so fern auch von Mexiko, geografisch wie kulturell, ein geeignetes Pflaster: Denn hier kulminierte mit der Zerstörung des Wandbildes von Rivera im gerade errichteten Rockefeller Center der politische Konflikt, der sich unausweichlich hatte ereignen müssen.

Die Pariser Moderne rückt in den Hintergrund

Es war der 4. Mai 1933, als der junge Nelson Rockefeller, maßgeblich am Rockefeller Center beteiligt, Diego Rivera in einem überaus höflichen Brief um einen Gefallen bat: Rivera sollte in dem gerade entstehenden Wandbild „Der Mensch am Scheideweg“ das Portrait Lenins durch das eines unbekannten Mannes ersetzen. Rockefeller, ein typischer Ostküsten-Liberaler, begründete seinen Vorstoß mit dem öffentlichen Charakter des Wandbildes. Er wollte Ärger vermeiden. Es war die hitzige Zeit der Präsidentschaft Franklin Roosevelts und dessen „New Deal“.

Rivera weigerte sich, verlor den Auftrag, das Wandbild wurde übermalt und bald ganz zerstört. Rivera galt der Linken – auch in den USA gab es Kommunisten – als Held und malte das Bild ein zweites Mal, nun in Mexiko und leicht verändert. Neben Lenin ist auch Trotzki zu sehen, der in Mexiko im Exil lebte und später von Stalins Agenten ermordet wurde.

Im Whitney Museum beschließt eine wandhohe Foto-Reproduktion dieser zweiten Version in der Originalgröße von 4,8 auf 11,4 Meter die Ausstellung, während seitlich davon die Vorzeichnung zu sehen ist, die Rivera der Rockefeller-Kommission vorgelegt hatte – da war von Lenin keine Spur, überhaupt von keinem konkreten politischen Inhalt.

Rivera war ein Meister der kalkulierten Provokation, wie auch ein Meister im Umgang mit großkapitalistischen Auftraggebern. In der prosperierenden Automobil-Hauptstadt Detroit ließ ihn die Ford-Familie den Innenhof des Kunstmuseums ausmalen.

Diego Rivera weigerte sich seine Arbeit zu ändern

Rivera lieferte eine Feier der Industrie und, wenn man so will, des homo faber. Die Bewunderung von Technik und wissenschaftlich-technischem Fortschritt ist für Rivera kennzeichnend, während Orozco sich eher Menschheitsthemen wie dem im kalifornischen Pomona dargestellten „Prometheus“ sowie dem Epos der amerikanischen Geschichte widmete. Siqueiros, lange Zeit überzeugter Stalinist, rückte die Politik und insbesondere die Warnung vor Faschismus und Krieg in den Mittelpunkt seiner Arbeit.

Die Wandbilder der Großen Drei sind, abgesehen von kleineren Arbeiten und Fragmenten, teils sogar auf Zement, also nicht im Original zu bestaunen. Die vielen Gemälde, Zeichnungen und Vorstudien aber zeigen den Einfluss auf die amerikanischen Künstler, die bei ihnen lernten und keine eigenen Wandbilder vorzuweisen hatten.

Die Ausstellung zeigt 200 Werke von 60 nordamerikanischen und mexikanischen Künstlern.
Die Ausstellung zeigt 200 Werke von 60 nordamerikanischen und mexikanischen Künstlern.

© Laura Bonilla Cal/AFP

Eine überraschend zentrale Rolle spielt in dieser Übertragung Jackson Pollock – Jahrgang 1912 –, der Held der abstrakten Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war Teilnehmer des „Experimental Workshop“, den Siqueiros 1936 in New York abhielt.

So kleinformatig seine zahlreichen Arbeiten aus diesen frühen Jahren auch sind, zeigen sie doch genau die Tendenz zur Entgrenzung, die die Muralisten mit ihren gemalten Erzählungen vorführten und die er selbst später auf seine Art in den abstrakten drip paintings auslebte.

Auch Jackson Pollock lernte von den Wandbildmalern

Zudem hatte Pollock bei Thomas Hart Benton gelernt, der in den dreißiger Jahren ebenfalls in New York arbeitete. Hauptvertreter des auf das ländliche Amerika fixierten American Scene Painting der dreißiger Jahre, fand Benton eine eigene Form der narrativen Geschichtsmalerei, etwa im Zyklus von Wandbildern für Kansas City.

Sechs solcher Tafeln – im strengen Sinne keine Wandbilder, sondern passgenaue Ölgemälde, die auf die Wand montiert wurden – sind in einer eindrucksvollen Reihe in der Ausstellung zu sehen. Mit einem Mal wird klar, dass Benton, stets changierend zwischen Geschichtskenntnis und Sendungsbewusstsein, den virtuellen Wettstreit mit den Mexikanern suchte.

Ohne ihre, von den Massenmedien aufmerksam verfolgten US-amerikanischen Arbeiten ist er wohl kaum zu denken. Und es wird im Whitney Museum deutlich, dass die politische Kunst der Mexikaner Mut machte, Themen wie Streik und Gewalt künstlerisch aufzugreifen.

Der New Deal als Wandbild

Wie ein Wandbildentwurf wirkt Philip Evergoods Gemälde „American Tragedy“ von 1937, mehr noch des Afroamerikaners Charles White episches Vier-Meter-Gemälde „Progress of the American Negro“ von 1939/40. William Gropper, der den New Deal in Wandbildern für Postämter feierte, malte daneben den gewalttätigen Arbeitskampf in der Stahlstadt Youngstown, und der linksstehende Ben Shahn fand sein großes Thema in der Erinnerung an den Justizmord an den Anarchisten Sacco und Vanzetti.

So änderte die US-amerikanische Kunst ihren Verlauf, nachdem die Muralisten Furore gemacht, aber auch ihr malerisches Können gelehrt hatten. Mit einem Mal war das Vorbild Paris nicht mehr so wichtig. Die Ausstellung im Whitney Museum zeigt diesen Umschwung in großer Fülle und vielen Facetten. Sie lässt nur die kleine Pointe aus, dass jedenfalls Diego Rivera in den 1910er Jahren vorwiegend in Paris gelebt und dort dem Kubismus angehangen hatte. Zum nationalbewussten Mexikaner, gefeiert als „Maler der Seele Mexikos“, wurde er erst nach seiner Rückkehr.

Whitney Museum, New York, 99 Gansevoort Street, bis 17. Mai. Katalog (Yale University Press) 65 Dollar. www.whitney.org

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